Zum Klettern und Reisen gehört für mich unzertrennlich das Fotografieren, Dokumentieren und Beschreiben dazu. Mal eine reine Darstellung der Felsen und Touren, mal ein persönlicher Bericht über das Innenleben. Hier stelle ich eine Auswahl meiner Blogbeiträge vor, die vollständige Übersicht findet ihr auf meinem Instagram- oder Facebook-Profil.
Kommt mit und schaut gern rein, in die steilen Wände Europas und was man in ihnen erleben kann!
Wenn sich Historiker Wagner und Generaldilettant Ott gemeinsam ans Seil binden bedeutet dies, dass es 1) unter der Fahne des Deutschpunk geschieht und sich 2) die Zitierungsfreude frei ausleben kann, da sich das kulturelle Gedächtnis der beiden erstaunlich deckt. „Asozial und unrasiert“ geht es also in das schönste Riff der Welt. Noch ist sie es nicht, „die Unterhose kotverschmiert“, dafür jedoch sind es die Einstiege, die Stände, ein jeder versteckter Ort hinter einem Busch. Doch „wo es stinkt ist mein Revier“, insofern nehmen unsere „Punkrockkavalier[e]“ die Umgebung dankend an und machen es sich heimelig.
Ob der ordentlichen nächtlichen Regengüsse schlappen wir etwas widerwillig zum Einstieg der Ciavazes Südwände, aber mei, bei 10 Minuten Zustieg kann man ja zumindest mal schauen und weil es so schön aus allen Löchern trieft auch einfach einsteigen. Ab Seillänge zwei regnet, ab der dritten schüttet es, was aber irgendwie egal ist, da die Griffe und Tritte der Kleinen Micheluzzi Führe nicht nur „stellenweise feucht, stellenweise nass“, sondern auch verschwenderisch groß sind.
Der Nürnberger Teil unserer Seilschaft weiß über die Fünffingerspitze zu berichten, dass dort oben wohl die Zigaretten besonders gut schmecken sollen; so zumindest berichten es 1926 die Gebrüder Gottfried, ebenfalls Söhne seiner Stadt. Zur Überprüfung entschließen der passionierte Raucher Wagner und ich der Sache auf den Grund zu steigen und tun dies über die herrlich exponierte Daumenkante und schließlich die Nordseite auf den mittleren jener fünf Finger, eine Traumtour im vierten Grad. Und wahrlich: „Der dachartig abgeschrägte Gipfelaufbau ist erreicht […], die wohlverdiente Rast wird in behaglicher Ruhe genossen. […] Der spärliche Proviant erhält seinen Platz im Magen zugewiesen und die Gipfelzigaretten dampfen hinterher nicht schlecht.“ Einen kurzen Schnack mit dem am Berg arbeitenden Ivo Rabanser später geht es den großen Manus wieder herunter zum „Bier“, schließlich „trinkt [man] es zum Deutschpunk.“ Diesen und jenes genießen wir beim Blick in die Natur, die wir im Einverständnis als interessante, uns aber stets auch etwas fremd bleibende Formvariante der Umgebung begutachten.
Da wir unserem üblichen Thema der historischen Kamine noch nicht näher kamen, fällt die nächsttägige Wahl auf Angelo Dibonas Spätwerk am Großen Falzaregoturm. Vielleicht kein echter Kamin, eher ein solider Off-Width, denn wir haben ja gelernt: „Enge Kamine mit Breite <1m werden in Diagonalstemme überwunden“, wohingegen „schmalere Felsspalten bis 0,4m als Risse, nicht als Kamine bezeichnet werden.“ Wir haben nicht nachgemessen. Aber schee wars scho.
Zu kurzer Letzt kletterten wir eine der moderneren Routen am Hexenstein, die wir so doof fanden, dass sie hier nicht erwähnt werden soll. Einzig die Blumenpracht treibt spektakuläres und steht in anregendem Widerspruch zu Schützengräben und Stacheldraht.
Während die Textproduktionsseilschaft Wagner/Ott das Jahr über vor allem in digitalem Austausch an neuerlichen Narrativen über die Alpingeschichte arbeitet und der praktische Nachvollzug häufig hinter den theoretischen zurücktritt, sind es doch die großen gemeinsamen Momente, wenn die Idee zumindest einmal im Jahr zu sich selbst kommt — und das kann beim Klettern nur heißen: wenn sie praktisch wird. Wenn ich daran denke, wie dieses Team sich einst gefunden hat — die Wagnerschen Zigaretten und das Ottsche Bier —, dann ist es im Leben alldieweil doch so, wie Claus Lüer es schon immer sagt:
„Bier,
das klingt jetzt unfassbar,
öffnet eine Tür,
die vorher noch zu war.“
Zumindest einmal im Jahr gemeinsam was ganz langes klettern — das hat sich über die Jahre als Maxime der Seilschaft Stefanderer/Taugenichts herauskristallisiert. Nach den Nordseiten von Badile und Fuorikante wollten wir es diesmal etwas wärmer angehen, also auf in eine der berühmtesten Südwände der Alpen, nämlich die, der Marmolada.
Wir haben mindestens aus taktischen Gründen gut Respekt vor diesem Gemäuer, denn wie immer gilt: lieber ein bisschen zu viel davon, als zu wenig. Insofern ist die Routenwahl für uns unkompliziert: „Don Quixote“ (VII, 750m) ist der vielleicht gängigste der langen Wanddurchstiege.
Mindestens vier Partien wollen an diesem gewitterfreien Sonntag auf gleicher Route durch die Wand steigen. Obwohl Stefan und ich nur einmal im Jahr miteinander klettern, sind wir eingespielt und klettern als Seilschaft üblicherweise auch ganz hohe Wände unterbrechungsfrei. Insofern ist unser Hauptziel, als erste Partie in die Wand zu kommen und allen Stau hinter uns zu lassen; schließlich wollen wir nicht nur die Bahn nach unten bekommen sondern Stefan auch noch heim nach München.
Zuversichtlich, dass niemand zu solch finsteren Unzeiten für 24 Seillängen Südwand aufsteht, steht unser Wecker auf 4:00 Uhr. Pustekuchen. Um 3:30 Uhr klingelt der Wecker einer italienischen Seilschaft. Also andiamo und in die Dunkelheit, in der sich Einstiege solcher Riesenwände besonders gut finden lassen. Unser Spürsinn jedoch ist schon wacher als wir und leitet uns (und in Folge auch die anderen Stirnlampen) zu den Einstiegskaminen. Wir verzichten nicht nur auf einen als Kaffeeersatz gedachten Energydrink sondern zunächst auch auf das Sichern, zu hell pressiert fremder Stirnlampenschein uns im Genack. Schließlich geht es anregend simultan steigend die ersten sechs Seillängen hinauf, gleich nochmal sechs sicherungstechnisch angepasste weitere Längen hinterher und auf das große Schuttband in der Wandmitte. Es ist noch nicht halb Acht und von der Sonne keine Spur — dafür aber auch von sonst niemandem mehr. Damit das auch so bleibt, sparen wir uns Pause & Energydrink weiter auf. Außer kurzer Wolkenauflockerungen und dem auf komfortabler Distanz bleibenden Italienisch werden wir von beidem, Sonne & Seilschaften, nichts mehr mitbekommen.
Im oberen Teil beginnen wir erstmalig, Seillängen und Kletterpassagen bewusst wahrzunehmen. Während die Wand im unteren Teil recht unstrukturiert abbricht, bildet sich der Pfeiler der Marmolada d’Ombretta oben zu einem gigantischen Plattenschild erster Güte aus. Ein erstaunlich athletischer Überhang leitet an fränkischen Löchern vom großen Band hinweg in die weite Haltlosigkeit, doch leider nicht mitten in sie hinein, sondern am linken Pfeilerrand über immer wieder veränderungsfreudiges Gestein hinauf. Hier mal eine schöne Platte, dort eine nette Verschneidung, sonst jedoch will bis zu den allerletzten Längen nicht wirklich etwas im Kopf bleiben. Aber gut, je schneller es dahin geht desto früher ist Stefan zurück daheim. Schlüssellänge Nr. 21 klettern wir auf der von Heinz Grill erstbegangenen Variante durch eine Rissverschneidung: kräftiges Piazen, weites Spreizen, zornig 7. Grad. Spaßig, gut gesichert, erinnernswert (immerhin). Anschließend eine technisch überraschend anspruchsvolle Lochplatte (6+) und zwei nochmals überraschende, da überraschend heikle Längen (5+, 4) durch splittrige Verschneidungen an windigen Ständen — es sind diese letzten vier Längen, die uns nach 20 Längen Zustieg im Kopf bleiben werden.
Auf eine wenig sonnige Südwand folgt ein aussichtsloser Gipfel, einzig kurze Fenster geben ungewohnte Blicke auf die mittlerweile doch ganz gut vertrauten Wände ringsum frei. In perversem Genuss wandert das ortsunübliche Energiegetränk nun doch noch in uns und wir anschließend durch den seltsamen Versorgungstunnel in die Seilbahnstation hinein. Es gibt inkommodere Abstiege. Nicht erst dort, eigentlich schon am Gipfel die uns beiden durch den Hirnstamm ziehende Frage: War das jetzt eigentlich eine gute Tour? Wir wissen es nicht. Für uns fühlte sich die Kletterei nach jenem typischen einfachsten Wanddurchstieg an, der sie auch ist. Was haben wir dann eigentlich anderes erwartet? Auch keine Ahnung.
Was wir aber wissen: Es ist der größte Genuss und ein Privileg, in dieser Seilschaft klettern zu dürfen. Das jederzeitige stille Einverständnis über ungefähr alles, das konstante und stetige Klettern mit der ersten Pause am Gipfel sowie die gleiche Auffassung des Verhältnis’ Sicherheit—Schnelligkeit. Einen Tag in dieser idealen Einigkeit und dazu noch in einer so großen Wand verbringen zu dürfen, ist ein wenig alltägliches Glück, dass es aber unbedingt wert ist. Ganz gleich, durch welches Medium, sprich: durch welche gewählte Klettertour, es sich realisiert.
Klassiker klettern
Wenn ich eine Sache wirklich lange machen kann, dann ist es vielleicht diese: Klassiker klettern. Wege zu klettern, die eine Historie haben, zu denen es etwas zu erzählen gibt, in oder an denen sich Geschichten ereignet haben. Kletterrouten mit Geschichte beziehen ihren Nimbus ja häufig daher, dass Menschen etwas an Bedeutung in dieses Stück Fels hineingelegt haben, dass ihm eigentlich gar nicht zu eigen ist. Erstmal ist da ja nur Fels, kalter, harter, toter Fels, Erd- und Sedimentschichten, die vertikal formiert wurden. Doch irgendwann kamen sie einmal, diejenigen, die sich mit dieser Sache auseinandersetzen wollten und eine Kultur um sie entwickelten.
Klassiker klettern kann heißen: körperlich nachspürend und seelisch nachfühlend eine historische Auseinandersetzung nachzuvollziehen, die Menschen — echte, lebendige Menschen — Generationen vor mir gelebt haben. Das Klettern kann so zu einer empathischen Tätigkeit werden, nämlich zum annäherungsweisen Hineinversetzen in die Situation anderer Menschen (natürlich je nach Zeitpunkt einer Erstbegehung nur sehr abstrakt. Modernes Material, Technik und Wissen verändern die Erfahrung fundamental. Für uns GenussklettererInnen ist das aber auch nötig, sonst könnten wir uns dort ja gar nicht bewegen.)
Der sportliche Ausdruck kann hier zum Medium einer kulturellen Auseinandersetzung werden. So wird das Klettern einer Route zur praktischen Umsetzung des vorherigen theoretischen, meist lesenden Studiums. Über Routen lesen, in Routen einsteigen. Das Einsteigen in eine Tour, deren Geschichte einem vertraut ist, kann ein ehrfurchtsvolles Erlebnis sein, das tief beglückt. Für mich wird eine Route erst dann wirklich interessant: Wenn ich mich in jene Bedeutung hineinversetzen kann, mit der frühere Menschen das vor mir liegende Stück Fels aufgeladen haben. Im Medium des Sportes maximal weit weg vom Sport selber sein.
Und wieso diese vielen Worte nun zu Bildern der Pfälzer Sandsteintürme?
Weil man, wenn man möchte, hier diesen Nachvollzug im Kleinen leben kann. Viele der klassischen Routen sind nicht selbstverständlich, wollen gut geplant und solide überdacht sein. Das kleine Abenteuer auf 30, 40 Meter. Man klettert einen Jubiläumsriss am Nonnenfelsen nicht im Vorbeigehen und spult auch keine Routen ab. Den Dingen Bedeutung verleihen. Ein wenig demütig auf den Schultern der alten Riesen stehen. Das macht das Leben unbedingt reicher.
Aber was rede ich hier nur von Routen. Ich weiß nicht, ob ich irgendwo schon einmal so ästhetische Felsformationen berührt habe. Man steht vor Türmen und kann es nicht glauben, berührt den Fels und kann es nicht glauben, klettert einen Weg und entwickelt ein fast erotisches Verhältnis zu dem eigentlich harten Stein, der hier so zärtlich weich daher kommt. Man möchte ihn streicheln, auf jeden Fall nicht zu grob anlangen. In einer kurzen stillen Beziehung mit den Waben und Rissen sein. Diese haptische Intensität kenne ich kaum aus Kalk oder Granit. Und auch wenn ich früher schon öfter in Pfalz und Elbsandstein klettern war: Irgendwie geht mir das heute näher, irgendwie greift es tiefer. Vielleicht entwickelt sich so ein romantischer Zugang ja auch erst mit den Jahren.
Vollendet wird dieser Überschwang zumindest mit einem Kletterpartner, der die Sache genauso fühlt. Mit dem man ihn teilen kann. Danke Hanni, dass wir uns immer wieder so sehr in unserer Begeisterung für ungefähr alles verlieren
Ich wollte hier schon länger notieren, dass es zur Daseinsform der Dauerreise gehört, dass alle Bekanntschaften grundsätzlich temporär sind. Dass sie in der Zeit, in der sie bestehen, glücklich und erfüllend sind, dass man aber nicht davon ausgehen sollte, dass sie bleiben werden. Irgendwann ziehen alle wieder ihrer Wege, verfolgen ihre Ziele, bleiben vielleicht auch etwas eremitig in ihrer kleinen Blechbox. Stabilität muss man sich hier von einem anderen Ort holen — entweder von innen und aus sich selbst heraus, oder auf anderen Wegen.
Und so sehr die Zeitgebundenheit der Beziehungen auch gewaltiges Faktum ist, so entrinnbar fühlt es sich jedes Mal an, wenn man doch wieder auf die immer gleichen Pappnasen trifft. Sabrinas Kollektivierungsgabe vereint das Costa-Blanca-Rudel in Margalef und ergänzt um die Allgäuer EP-Kolleginnen Lorena&Lena sowie Younggun Chris und Monomaschine Dennis. Die lästigen Sportkletterschuhe hatte ich ohnehin bereits an den Nagel gehängt, wodurch drei glücklichen Tagen mit Kamera statt Chalk an den Händen kein lästiger Leistungszwang im Wege stand.
Was mir gut daran gefällt, mit der Kamera im Statikseil zu hängen, ist die besondere Nähe, die man zu seinem Gegenstand einnimmt. Man kommt der Klettererin im Moment größter Anstrengung und Konzentration nahe. Man erlebt die Intensität des Augenblicks wörtlich, da man versucht, den Blick einzufangen: Den Blick der maximalen Gegenwärtigkeit, in dem Wille, Kraft und Bereitschaft zu sehen sind, in dem die Seele in voller Spannung ganz auf ein Stück Fels gerichtet ist. Vergangenheit und Zukunft spielen keine Rolle, hier zentrieren sich Körper und Geist als unbeschränktes Ich auf den nächsten Zug. Dieser Transzendenz nahe zu kommen, ihr Zeuge und Chronist zu werden, kann für den, der sie spüren möchte, ein gleichsam tiefer Moment sein.
Herzlichen Dank euch allen fürs Modell klettern. Ich freu mich riesig über die Bilder.
Kartoffelacker Notate (1/2)
Es ist eine unwahrscheinliche Landschaft, in welche die alte Erdenrinde im Verfall hier vor sich hin erodiert. An den lieblichen Westausläufern der Pyrenäen döst die Landschaft gemütlich vor sich hin: sanft geschwungene Hügelchen erinnern eher an die Pfalz als an Spanien, blühender Rosmarin und Ginster verströmen freundlichen Frühlingsduft.
Und dann stehen sie plötzlich da, diese bis zu 300m hohen Türme aus fest miteinander verbackenen Kartoffeln. Die drei großen und vielen kleinen Türme sind von einer einmaligen Exposition ab dem ersten Meter. Aber sind sie bloß senkrecht? Mitnichten. Lässt man vom Mallo Visera z.B. eine Dose Bier fallen, muss man 50m vom Wandfuß entfernt stehen, um sie auffangen zu können.
Im überhängenden Kartoffelacker bewegt man sich in einem Kletterstil, der so weit über dem Boden einmalig ist: Von Henkel zu Henkel greift es sich endlos aufwärts. Die sind mal besser, mal etwas schlechter, einen wirklich schwierigen Einzelzug wird man hier jedoch kaum finden. Dafür sind die Kartoffeln einfach zu gut, auch wenn die Steilheit immens ist; schwieriger als 7b+ wird es hier oben nicht.
Ein Ausdauerklettern, dass eine umfassende Müdigkeit in den ganzen Körper treibt. Von den 500-700 Kletterbewegungen einer Route ist hier zwar keine so schwierig, dass sie das Muskelsystem in der Tiefe angeht, jedoch auch keine einzige wirklich leicht. Was man in Riglos lernt: die Sache zusammenhalten. Dranbleiben. Atmen. Ein bisschen leiden, aber Weiterklettern.
Mehr noch als die Felsen und die Kletterei, ist jedoch dieses Team zu beschwärmen. Lukas und ich kannten uns nur flüchtig und waren noch nie miteinander Klettern. Die reine Sympathie reichte aber aus, um sich für ein Abenteuer im Konglomerat zu verabreden. Wir ahnten ja nicht, auf was wir uns einlassen! Beide sind voll feuernder Motivation, die jeden Tag aufs Neue in den Acker treibt. Beide sind ähnlich stark, beide zu etwas unbarmherziger Körperschindung bereit. Rigloser Rigorosität sozusagen. Von der ersten Route an flowen wir durch die Wände und reißen innert einer Woche ein solides Programm ab.
Ein großes Privileg für beide ist es, jemanden zu treffen, der genauso on fire ist, wie man selbst. Wenn das zusammenkommt und man sich auch noch mag, dann steht einem die Welt offen.
Zu den von uns bekletterten Touren in einem weiteren Post mehr.
Fiesta de los Biceps (7a, 230m)
Um es kurz zu machen: Die Route ist absolut zurecht weltberühmt und jede Lobpreisung gebührt ihr einschränkungslos.
Gottes steilster Kartoffelacker ist zweifellos eine Form des vollendeten Kletterns. Zunächst arbeitet man sich gute 100m durch senkrechtes und technisch anspruchsvolles, jedoch konventionelles Gelände hinauf um anschließend bestimmt 30 horizontale Meter durch einen drei Seillängen messenden Überhang zu steigen.
Die Höhe bzw. Tiefe der ersten Längen kann das Gehirn noch normal verarbeiten: Unter den Sohlen befindet sich irgendwo der Einstieg und es geht ganz normal nach unten. So ist man das gewohnt, das ist immer so. In den oberen Längen befindet sich jedoch plötzlich die bisherige Route unter einem und wirkt wie eine riesige Platte, auf der Magnesiaspuren den bisherigen Weg nachvollziehen lassen. Aber war das da unten Plattenkletterei? Ganz sicher nicht.
Die Situation für das verarbeitende Organ ist vertrackt: Man hängt so weit jenseits des Einstiegs, dass die gewohnte Situation (Einstieg geradewegs unter den Füßen) nicht mehr gilt. Eine visuelle Erfahrung zum Irritiertsein, zum Kopfschütteln, zum Genießen.
Ich dachte im Vorfeld, dass einem diese maximale Exposition eventuell zusetzen könnte und das Klettern etwas grobmotorisch gerate. Doch sollte das Gegenteil der Fall sein: Hier klettert es sich so befreit wie in der Kletterhalle. Oder sogar befreiter? Immerhin geht ein Sturz mit absoluter Garantie lediglich ins Leere. Anschlagen ausgeschlossen.
Der Henkel sind es immer gleich eine ganze Reihe und die Tritte kann man sich je nach Körpergröße, Gusto oder Spaß an der Freude aussuchen. Hooken oder mit der Fußspitze anziehen? Zwischengreifen oder eingedreht explodieren? Einfach mal dynamisch was anspringen und die Füße kommen lassen? Nur für’s Gefühl? Um so einen Quatsch mal mit 200m unmittelbarer Luft unter den Sohlen zu machen? Alles möglich.
Die knapp 100 überhängenden Klettermeter können — wenn man sich ganz grundsätzlich in ihnen wohfühlt — der größte Spielplatz sein. Man kann der eigenen Bewegungskreativität freien Lauf lassen, seine ganz eigene Route klettern. Ich würde das auch sofort wieder tun: es wäre nicht die gleiche Bewegungsfolge wie beim ersten Mal.
Dass uns die Tour als Team im Onsight gelungen ist, es also ein sturzfreier Tag für uns beide war, freut uns besonders. Braucht man ja eigentlich gar kein Seil, gell? Das zumindest dachte sich Alex Honnold 2012, der das Bizepsfest free-solo ONSIGHT geklettert ist. Sich das zu vergegenwärtigen, während einem die Unterarme auf Popeyes Niveau anschwillen, lässt vollständig an der Vernunft dieses Mannes, jedoch keineswegs an seinen Fähigkeiten zweifeln. Sein Kommentar: „A good adventure, exciting, but nothing too crazy.“
Dem schließen wir uns nicht an.
Es ist — im Gegenteil — komplett crazy.
Eine Tour, nämlich „Zeppelin“ (6c+, 300m), hebt sich von der restlichen Schönheit jedoch ein wenig ab und das liegt an folgendem: Im 19. Jahrhundert erkannte man auch rund um das Dorf El Chorro das Potential der Energiespeicherung durch Stauseen und plante die enge Gaitanes-Schlucht in das Kaskadensystem mit ein. Für den nötigen Materialtransport wurde ein Bohlenweg an den Wänden der Schlucht installiert, dessen Brücke von König Alfons XIII. persönlich eingeweiht wurde und seitdem den Namen „Caminito del Rey“ (also das Königswegchen) trägt. Der alte Weg verfiel zusehends, wurde gefährlicher, kostete Menschen das Leben, wurde 2001 schließlich gesperrt und nur noch von Kletternden als Zustieg zu den Touren in der unteren Schlucht genutzt. Bis 2015 wurde der Caminito grunderneuert und ist heute eine der touristenreichsten Attraktionen der Comarca. Da das Wegchen nun nur noch gegen Gebühr und Voranmeldung begehbar ist, wurden viele Kletterrouten des Schluchtbereichs gesperrt.
Eine der wenigen noch kletterbaren Touren ist unser Zeppelin. Hier klettert man genau gegenüber des Caminito und sollte eigentlich ein wenig Trinkgeld von den Wandernden verlangen, da unklar ist, was nun eigentlich die größere Attraktion ist: Das Wegchen oder wir. Hüben pfeift ein Offizieller, dass die Leute doch bitte weitergehen und nicht so lange stehen bleiben sollen, drüben freuen wir uns des Lebens und des besonders orangefarbenen Kalks. Wildes Plattenschleichen, eine ausladende Dachtraverse, abdrängende Handrisse und ein Abschlussgrat aus dem Bilderbuch: der Zeppelin bietet uns einiges und wir wiederum den Spazierenden.
Im Kontext dieser Tour habe ich so manches zum ersten Mal gemacht, zum Beispiel bin ich das erste Mal durch einen aktiven Zugtunnel zugestiegen und habe das erste Mal einen Ziegenschädel und ein Pausenbrot durch eine schwierige Wand transportiert. Es gibt da auch noch ein paar andere Dinge, aber die sind nicht für hier, hihi.
Einen unschätzbaren Dank dir, Sabrina. Dafür, dass wir uns in den letzten Wochen immer mal wieder zusammen ans Seil gebunden haben und überhaupt. Fortsetzung folgt?
Eine glückliche wie überraschende Wende nahm diese Reise durch die Unterstützung des Rudels, bestehend aus Bastien & Sabrina sowie der lupis Poppi & Bella. Mit ihnen beruhigt sich in der entgegenkommenden Szenerie der Sierra Aitana hinter Benidorm mein Reisedrang und es will sich fast wie ein Ankommen anfühlen, in dem Innen und Außen für einen Moment zum Stehen kommen. In unterschiedlichen Konstellationen klettern wir in einer guten Woche 3000 Meter nach aufwärts.
Bastien & ich kehren nochmals an den unwahrscheinlichen Monolithen des Ifach zurück und steigen der Südostwand durch den Klassiker „El Navegante“ (7a, 200m) aufs Haupte. In einem denkwürdigen Kampf gelingt uns hier ein sauberer Onsight der mir lange im Kopf bleiben wird.
In fröhlichem Triple Entente begleiten wir einander auf „Gorilas en la roca“ (6c+, 220m) durch den überhängenden Teil der Südwand des Ponotx.
Wiederum durch die Ponotxwand führt mich Sabrina in sechs langen Längen: Nämlich simultan und unter fast vollständigem Verzicht auf gebohrte Zwischenhaken über den Weg der Erstbegeher, die „Via Valencianos“ (6a, 620m).
Wenn ein Bedürfnis befriedigt ist, melden sich schnell andere und begehren auf. Nach ein paar Jahren Erfahrung mit sich selbst, weiß man, wie die eigene Bedürfnispyramide funktioniert. Stellt sich etwas Müdigkeit vom Klettern ein, regen sich schnell die anderen Bedürfnisse, die immer etwas überdeckt in einem schlummern. In meinem Fall ist es die Sehnsucht nach der Welt, nach dem Reisen, dem Neuen, dem Ansichtigwerden all dessen, was ist. Nach dem Kennenlernen des noch nicht Bekannten.
Im Gegensatz zu den bisherigen Inseln, an denen ich auf dieser Reise zeitweise anlandete, ist das Aufbrechen dieses mal wenig leicht. Zu gut ist dieses Team, zu reichhaltig diese Landschaft, zu erfüllend die gemeinsame Zeit. Aber es liegt in der Natur dieser Reisen, dass alles temporär ist. Orte, Bekanntschaften, das Glück. Dieses Faktum kann man bedauern, entkommen kann man ihm nicht.
Ich kann das gut annehmen. Und fahre fort; in tiefer Dankbarkeit für eine außergewöhnliche Zeit mit sehr außergewöhnlichen Menschen.
Costa Blanca.
Dieser seltsame Name, den sich die Tourismusindustrie der 50er Jahre für den Küstenabschnitt zwischen Dénia und Alicante ausgedacht hat, wird keineswegs der Vielfalt gerecht, die dieses verhältnismäßig kleine Areal beherbergt.
Wie überall an der spanischen Mittelmeerküste herrscht dichteste Bebauung, die nur von den unzugänglichsten Felsregionen unterbrochen wird. Benidorm, die Stadt mit der weltweit höchsten Hochhausdichte pro Einwohner, mochte früher sicherlich das Stereotyp des mittelständischen Mittelmeerurlaubs mitgeprägt haben; heute wirkt die Sache wie ein Mahnmal der Wirtschaftskrise 2007 und der anschließend platzenden spanischen Immobilienblase. Überall hat sie ihre „Ciudades Fantasma“, ihre Geisterstädte, hinterlassen.
Doch nur wenige Kilometer hinter den prächtigen und täglich vom angeschwemmten Plastik zu reinigenden Stränden finden sich im Gebirgszug der Sierra Aitana mit Ponoig und Puig Campana die höchsten Wände weit und breit. Dem Mittelmeer stellt sich ein ebensolches aus Karst entgegen, das jeden der wenigen Tropfen Wasser unmittelbar abfließen lässt.
Wo Mitte Januar bereits die Mandel blüht und der Tourismus noch im Winterschlaf liegt, ist die Dichte der Naturwunder ein privater Erlebnisraum, den man am besten mit guten Menschen teilt, die sich auf dem gleichen Weg wie man selbst bewegen. An jedem Morgen ein Sonnenauf-, an jedem Abend ein Sonnenuntergang über dem Meer: Als würde dieses alltäglichste aller Schauspiele eine subtile Zuversicht in einem stiften. Eine, die sich festsetzt und wirksam bleibt.
Danke euch sehr, Bastien & Sabrina, danke, dass wir das gemeinsam spüren dürfen.
Fotografieren ist immer etwas zur beidseitigen Freude: zu der des Motivs und der des Knippsers. Und im besten Falle gibt es dann noch die dritte Partei, nämlich die Betrachterin, die der Sache ebenfalls etwas abgewinnen kann und es so zur allseitigen Freudenproduktion kommt.
Die Weiten des Internets und ein wenig auch der Zufall führte Chris Frick, den Jura-Dinosaurier aus Basel, ebenfalls nach Chulilla und uns gemeinsam zu einem reichlich inkommoden Ablichtungsmanöver im eisigkalten und winddurchtosten Canyon. Was Chris so treibt, schaue ich mir schon seit Jahren mit Bewunderung aus der Ferne an: mir fällt spontan kein anderer Kletterer ein, der in seinem Alter noch auf diesem äußerst hohen Niveau klettert und dies auch noch auf Basis einer veganen Lebensweise. Chris klettert mit einer Arbeitsmoral, die ihresgleichen sucht und schafft es dennoch nicht verbissen zu wirken. Hier ist viel Freundlichkeit am Werk: mit dem Fels, mit der Welt, mit dem Klettern, mit sich.
Sportkletterfotografie, ja. Damit habe ich gar nichts zu tun und irgendwie handelt es sich bei diesen Bildern um mein Debüt in diesem Bereich. Es wird wohl nicht dabei bleiben.
Ich bin Chulilla dankbar, auch wenn mir, wie üblich, die Zeit beim Sportklettern mitunter etwas lang wurde. Einerseits durfte ich hier einige meiner liebsten Kletterfotos schießen, zweierseits intensive Begegnungen machen und dreierseits meine bisher härteste Route klettern (aber das scheint hier vielen so zu gehen). Es ist ein gemütlicher Ort, an dem man gut die Zeit vergessen kann. Zumindest, wenn einem so etwas liegt. Für mich geht es weiter gen Süden. Es wartet eine Welt auf mich.
Die nächste Etappe der winterlichen Tour d’Espagne führt von València eine knappe Stunde dem Lauf der Turia folgend ins weiße Dorf von Chulilla. Und wie das Weiche das Harte jederzeit geduldig überwindet, so schuf auch hier ein kaum bedeutsamer Wasserlauf ein Schluchtensemble, das auch dem kritischsten Kletterherz eine Freudenträne entlockt. Festliche Wände für festliche Tage.
Ich muss den Chulillischen Wänden reichlich danken, dass sie hier und da auch Platz für einige kurze Mehrseillängen bieten. Und darüberhinaus Filli für die Bereitschaft, diese sogar noch mit mir zu klettern. Durch diese glückliche Zusammenkunft sind es nun über 100 dieser Touren, die ich 2023 klettern durfte. Das ist schön und gefällt mir, schöner jedoch ist, dass eine gute Hälfte dieser Touren gar nicht für mich selber, sondern für andere stattgefunden hat.
Die Reise durch die hohen Wände begann auf Sardinien mit der besonderen Mélange aus Aleksandra Taistra, der Route Genius und yours truly, die samt Foto- und Filmsessions 15-20 Tage einnahm. Etwa ebenso viele Ausbildungstage durfte ich für die Jugendlichen der JDAV Freiburg anbieten, nochmal so viele Tage fanden im Kontext von www.kletterkurse-freiburg.de statt, dazu hier und da kleinere Begleitungen von Freunden.
Es fällt mir schon immer leichter, die Ziele anderer Menschen zu unterstützen, als eigene Ziele zu entwickeln und durchzuführen. Ich habe das nie als persönlichen Mangel aufgefasst. Für mich sind es die glücklichsten Zeiten, Menschen bei ihrem Fortschreiten unterstützen zu können. Das Klettern langer Routen bedeutet immer kleine Abenteuer: Ein Aufbrechen weg vom sicheren Boden und hinauf bzw. hinein in eine Auseinandersetzung mit einem Stück Fels, vor allem aber auch mit sich selbst. Eine Auseinandersetzung, die jederzeit lohnt.
Häufig braucht es nicht viel um sich und anderen intensive Erlebnisse zu ermöglichen. Meist reichen ein paar Meter Wand. Und das macht mich unheimlich froh.
Das große Glück, am Alleinereisen ist häufig, dass man selten alleine bleibt, wenn man es nicht explizit will. Es ist wie ein heiteres WG-Leben, zu dem wir uns hier zufällig zusammengefunden haben, wir drei, jeweils mit unserer eigenen mobilen Wohnung: Rahel aus Graubünden, Felix aus dem Gadertal und ich. In unterschiedlichen Konstellationen treffen wir uns tagsüber zum Klettern, mal muss ohnehin der eine arbeiten oder die andere kommt an ihrem Restday nur schnell zum Fotografieren vorbei (abseilend, klar). Wer Zeit hat, besorgt die Aufmerksamkeit für den Hund und dessen nötigen Kuscheleinheiten, gemeinsam lernen wir Bündner Schwyzerdütsch.
Es ist ein großes Glück, sich diesen zufälligen Bekanntschaften ganz hingeben zu können. Zu zweit, zu dritt, zu viert zu sein, die Welt außenrum ganz sie selbst sein zu lassen und mit Kalender und Wochentag nichts mehr zu tun zu haben. Ein paar Leute mit Zeit, ein paar Autos, ein paar Kalkwände, sonst nichts. Es ist so einfach wie erfüllend, so unaufregend wie intensiv.
Mir scheint in diesen Konstellationen immer viel Raum für besondere Formen der Begegnung zu sein. Vielleicht ist es gerade das Wissen darum, dass es eine Beziehung auf Zeit ist. Vielleicht ist es auch das Stattfinden in einem grundsätzlich außeralltäglichem Raum. Vielleicht ist es die Möglichkeit, mit Menschen eine besondere Zeit zu erleben, von denen einen niemand kennt, in denen jeder gegenwärtig sein kann. Was auch immer es ist, es ist, wie gesagt, ein großes Glück.
Vieles hier scheint Jahr für Jahr so zu bleiben, wie es ist.
Zum Beispiel die Sonnenaufgänge. Zum Beispiel die Nebelwalzen über den Kalkpfeilern. Zum Beispiel die Intensität des Kletterns der klassischen Routen der 80er Jahre. In unserem Falle: „Pichenibule“, „Rêve de Fer“, „L’Ange en Décomposition“, „Fête de Nerfs“. Die Auseinandersetzung mit diesen Touren ist heute immer noch ein Abenteuer, auf das sich in seiner Tiefe einzulassen unbedingt lohnt. Einzig die Patinée wird jedes Jahr ein wenig mehr und die alten 8mm-Spit rosten ruhig und beständig aus ihren Löchern heraus.
Doch auch wenn es zunächst so wirkt, nicht alles bleibt hier wie es war: Philippe, dieser liebevoll verschrobene Charaktermensch La-Paluds, von dem man nie genau weiß, ob er wahnsinnig oder genial ist, weilte nur wenige Wochen in seinem kleinen Renault auf dem Parkplatz neben Lou’s Bar. Philippe zeichnete von mir im letzten Jahr mithilfe einer Geierfeder und eines Glases Pastis ein schönes Portrait, das ich ebenso wie die Feder nach wie vor bei mir trage. Ich bin ehrlich traurig, ihn nicht getroffen zu haben, diesen einzigartigen Menschen hatte ich sehr tief ins Herz geschlossen.
Auch weiß ich nicht, was ich von einer ziemlich relevanten Umgestaltung des Dorfplatzes halten soll: Die nach allen Seiten neon-pink leuchtende Rahmung des Eingangs zu Joe’s Snack Bar, mit den grandios-komischen Pop-Art Lettern „Joe Le Snacky“, ist verschwunden und wurde durch ein pseudo-elegantes Grau, drei goldene Sterne und den banalen Namen „Chez Joe“ ersetzt. Auch das stimmt ehrlich traurig, wenn auch in einem anderen Seelenbereich als die Abwesenheit Philippes.
„Débiloff Profondicum“ (6c+, 30m) ist ebenso wie „L’ange en décomposition“ (7a, 120m) seit den 80er Jahren einer der must-climbs der Schlucht. Hierzu trug vor allem der Filmklassiker „Opéra Vertical“ von 1982 bei, in dem Patrick Edlinger, damaliger Posterboy des französischen Sportkletterns und einer der Wegbereiter des Erfolgs von Béal, beim Klettern jener Routen begleitet wird.
Das Ganze ist vor allem aus ästhetischer Sicht immer noch spannend anzuschauen, haben sich die Geschmäcker z.B. in Sachen Bekleidung, Frisuren oder Sicherheitsmanagement deutlich verändert. Edlinger beim Klettern zuzusehen bleibt jedoch ein zeitloser Genuss.
Genauso ist auch „Debiloff“ heute noch eine geniale Tour an einem maximal exponiertem Pfeiler. Einzig über die außergewöhnliche Patinée und den Marmor der Schlüsselgriffe muss man sich wundern… Doch ein Blick in „Opéra Vertical“ gibt Auskunft: Natürlich musste der Edlinger mit seinen Mauken die Tour barfuß klettern (und free solo, aber das tut hier nichts zur Sache)!
Na herzlichen Dank.
Spaß hat’s ihnen trotzdem gemacht, den drei Models Merlin, Nicholas und Marion.
Was mich immer wieder nach Verdon zurückzieht, ist die Möglichkeit des Abenteuers unter den Bedingungen äußerer Gemütlichkeit. Nach dem morgendlichen Gang zum frischen Baguette passiert man Flipflop-besohlt die Straße hinüber zum Schluchtrand, hängt die Seile zum Abseilen ein, düst fröhlich 100-200m hinunter, die Seile werden abgezogen — und das Abenteuer beginnt. Nun hängt man hier, mit unwahrscheinlich viel Luft unter dem Gemüt und der Weg hinaus aus dieser Lage ist eindeutig, da einspurig und ohne Wendemöglichkeit.
Es klingt immer etwas paradox, aber es ist ein auffällig ruhiges Klettern, wenn man sich selbsttätig in diese Lage aussetzt. Man denkt es nicht, aber gerade die Luftigkeit bringt diese besondere Ruhe. Oder ist es die Eindeutigkeit? Dass absolut klar ist, was nun zu passieren hat und inshallah passieren wird?
Vielleicht ist es diese intendierte und selbstverschuldete Beschränkung der Freiheit, die beruhigt. All die Möglichkeiten der ausgehenden Spätmoderne, die vielen Verlockungen und Verwirrungen des Überangebots an versprochenem Sinn. Hier unten am Stand inmitten dieses Kalkschildes habe ich keine Fragen, ich muss nichts auswählen, lasse mich auch von nichts verführen, von was auch. Vielleicht ist ja so etwas in der Art damit gemeint, wenn man sagt, dass die viele Luft unter den Füßen gut für die Seele ist.
Aber das gilt natürlich für alle Formen des Kletterns, bei denen man sich freiwillig in Situationen begibt, mit denen man anschließend umgehen muss. Einzig: hier findet es unter den Bedingungen äußerer Gemütlichkeit statt. Nämlich mit Flipflops statt schweren Schuhen am Gurt im mediterranen savoir vivre der südfranzösischen Sonne. Und mit Unmengen Pain au chocolat.
Zur empirischen Prüfreihe des Reibungskoeffizienten zwischen Vibramgummi und Hochgebirgskalk reisen Leon und ich auf die Südseiten der Rätikon-Berge, genauer: aufs Grüscher Älpli zu Füßen der sieben Kirchlispitzen. Die nächtliche Anfahrt über die vogelwilde Alpstraße will dabei immerhin der heikelste Teil der Angelegenheit bleiben. Merke: 2,06m Wagenbreite können auch auf einer für 2,30m zugelassenen Straße ein Problem werden.
Da dies unser Erstkontakt mit den Kirchlispitzen ist und wir einiges grobes über die gebietstypische Bewertung und Absicherung gehört haben, nähern wir uns über die klassische „Galadriel“ (6c+, 400m) der Sache an. Wir sind jedoch erleichtert bis ernüchtert: Die Grade fühlen sich gemäßigt und das Hakenangebot solide an. Der Fels ist begeisternd und wir sind von der wenig steilen Adhäsionskletterei glücklich überrascht. Zwar begleiten uns hier nicht verdonesque die Vautour, staunen dürfen wir aber dennoch über einen Geier, nämlich über eine neben uns den „Silbergeier“ projektierende Seilschaft — auch kein schlechtes Schauspiel.
Als echte Fan-Boys klettern wir tagsdrauf „Kamala“ (7a, 300m) des von uns höchstgeschätzten Marcel Dettling. Eine herrliche Tour, in derer Schlüssellänge wir dann doch noch den Moment des Übergangs von Haft- zu Gleitreibung erfahren dürfen: kein schlechtes Brett, ein OS ist hier nicht drin. Doch wie herrlich schleicht es sich auf den obersten drei Längen dahin! Zunächst 50m feinstes Stehen auf bestem Zeugs, dann eine großartige 6c, auf deren gesamte Länge ein großartiger Zug auf den nächsten folgt und wiederum darauf ein köstliches 6b-Finale.
Premium-Prädikate finden ja oft im hochlobenden Vergleich statt: „Eisenharter Kalk wie an den Wenden/wie im Verdon!“, „Risse wie im Orco!“. Ich würde sagen: Platten wie am Grimsel (nur eben aus Kalk)! Wir jedenfalls wollen bald zurück und die Touren am finsteren Schweizereck angehen. Oder doch die just dieser Tage fertig gewordene Neutour von Kathrin & Marcel? Egal, genug zu tun gibt es in jedem Fall.
Wir entfliehen dem belastendem Trubel an den Zinnen und suchen Erholung in der einsamen Gipfelgruppe der Croda da Lago am Giau-Pass. Zum Cason di Formin steigen wir durch guten Lärchenwald zu und gelangen so zurück in die Stille, die den lärmgeplagten Passregionen abgeht. Über „Cecilia“ (VI+, 250m) wissen wir nicht viel, außer, dass sie einsam liegt, wenig bekannt ist und eigenverantwortlich abzusichern ist. Auf was für ein Prachtstück wir gestoßen sind, ist eigentlich schon bei ihrem Anblick klar: Eine unheimlich logische Linie, die über Verschneidungen und die vielleicht beste Risslänge, die wir je im Kalk geklettert sind, auf einen schlanken Turm in bester Ambience führt. Wir sind nicht schlecht beeindruckt und geben der Sache unzweifelhafte fünft Sterne.
Ein gewittriger halber Tag führt uns schließlich ans Grödner Joch und an die Große Cirspitze, wo wir ins Maul der weit offenen Kaminschlünde der „Cameron-Führe“ (V+, 160m) hineinsteigen. Es ist keine kleine Freude, dass ausgerechnet Stefan und Max ebenfalls in den Dolomiten unterwegs sind und wir diese grob-alpine Unternehmung zu viert im Partywurm bestreiten. Das Gute am Kamin ist ja: hier hallt einem das reichliche Gelächter noch ein wenig besser um die Ohren und vertreibt auch die letzte Angst, wenn man weit ausgespreizt die letzte Sicherung viele Meter unter sich baumeln sieht.
6 Tage, 6 Berge, 82 Seillängen, ca. 2400 Klettermeter, 10 geclippte Bolts am ersten Tag, insgesamt 6 an den fünf folgenden.
Es ist schließlich wie immer: Jede Abreise aus den Dolomiten erfüllt mit schmerzhafter Melancholie. Wie soll es auch nicht, wenn man Paradiese wieder verlassen muss. Doch gerade in Abschieden lässt sich das Glück, das man hat, vergegenwärtigen: Nämlich eine großartige Seilpartnerschaft in einer der schönsten Bergregionen der Welt. Danke Hanni, danke Dolos, danke Alles.
Nächster Tag, nächste Zinne, nächste Kante.
Zinnentypisch ist auch die „Demuth-Kante“ (VII, 500m) an der Westlichen Zinne keine Kante, sondern ein langer und sich kompliziert hin und her bewegender Ostwand-Aufstieg, der zwar nicht den besten Fels (den gibt es hier nicht), dafür aber auch nicht den logischsten Weg sucht. Für die Schönheit der Kletterei sind die zwanzig Seillängen wohl nicht berühmt, vielmehr jedoch für ihre Aussicht auf ihr Anderes, nämlich die stets begleitende Nordwand der Großen Zinne. Dieses ebenso hohe Gemäuer jenseits des Erwartungshorizontes passiert man im Zustieg, schaut fix in die überhängende Architektur des Ganzen, schüttelt mehrfach den Kopf und zieht die Jacke ein wenig weiter zu, da es hier noch ein ganzes Stück kälter ist, als überall rundrum.
Dieses einmalige Ambiente ist die Kletterei unbedingt wert. Im Gegensatz zur Kleinen Zinne ist es hier bemerkenswert leise. Keine Wege leiten das Publikum unter den Nordabbrüchen vorbei, die vielen Seilschaften rundrum verzichten hier auf Seilkommandos — womöglich halb aus Professionalität und halb aus Ehrfurcht.
Uns hat die Demuth was bedeutet. Es ist eine sehr lange und freie Führe in wilder Umgebung, in der der Weg kaum vorgegeben ist, da außer den Standhaken und sehr vereinzelten Zwischenhaken kein fixes Material in der Wand steckt. Die Schwierigkeiten sind zwar überschaubar, jedoch häufig nicht ordentlich abzusichern. Insgesamt also ein herrliches Abenteuer in noch herrlicherem Ambiente und einer ebensolchen Gipfelaussicht.
Wenn in den Dolomiten eine Sache neben der überwältigenden Schönheit omnipräsent ist, so ist es im Sommer sicherlich der Lärm. Die Pass-nahen Klettereien werden vom nicht ablassenden Motorradlärm umwölkt, dass es nur so eine Art hat. Ein ganz anderer Lärm hingegen stellt sich an den Südseiten der Drei Zinnen ein: ab 6 Uhr morgens zieht ein bis in den Abend nicht endender Strom von Menschen die Schotterstraße zwischen Auronzo- und Dreizinnenhütte entlang, dessen seltsames Gemurmel heroben manchmal gruseliger wiederhallt, als es die Wände selbst sind. Fährt man mit dem Riesenrad aus der direkten Akustik eines Fests hinauf und löst sich ferner und ferner aus dem Krach, so bleibt ein diffuses Wirrwarr über, das auch einen Tag an der „Gelben Kante“ der Kleinen Zinne begleitet.
Die Kante selbst ist sicher die kantigste Kante aller Zinnenkanten, wenngleich die Tour nur wenig an derselben sondern viel mehr in der Ostwand verläuft. Gleich die ersten Längen beweisen mal wieder, dass sich in den Dolomiten Überhang und sechster Grad keineswegs ausschließen, sondern zusammengehören wie klassische Touren und die abgeflexten Bohrhaken vergangener Sanierungsversuche. Dolomitentypisch wurde hier bereits in die erste Seillänge geschi****, dolomitentypisch klettert es sich über steile Rissverschneidungen, Quergänge und unübersichtliche Schuttterrassen hinauf. Wir sind uns einig: Die Kletterei ist großartig, ein Klassiker mit Fug und Recht hinauf auf die schwierigste Zinne.
So beeindruckend diese Zinnen auch sind, so unangenehm ist es, sich hier oben aufzuhalten. Der riesige Parkplatz, ein grauslicher Ort, die hunderten Wohnmobile, zwischen die man gezwängt auf den Aufbruch am nächsten Morgen wartet, ein absurdes Publikum, dass sich um einen herum verhält. Es ist aber auch ein wenig witzig, wenn z.B. an einem schönen Freitagnachmittag ein Stau vor der Mautstelle entsteht und es wie auf einem Festival zugeht. Nur dass die Show hier die Zinnen sind. Na, immerhin.
Die Dolomiten. Dieses wildeste aller Kalkriffe und nach wie vor der schönste Flecken der mir bekannten Welt. In unmittelbarer Dringlichkeit ziehen die gelb-grauen Fluchten geradewegs aus der lieblichsten Kuhwiese empor. Lockeres Latschen- und Piniengehölz bildet das Fundament dieses Schichtaufbaus, offenes Blumenidyll den Überbau und versteinerte Meeresreste grenzen die Erde gegen den Himmel ab: grün-gelb-blau. Das ist die Farbpalette, mit der man hier am Werke war. Man kann diese Landschaft überhaupt nicht zur Genüge loben und keine Beschreibung wird diesem Meisterwerk der Erdformung gerecht.
Mich zieht es seit vielen Jahren auf der Suche nach intensiven Erlebnissen in die Dolomiten, Hanni zum ersten Mal. Wir haben keine besonderen Ziele, wollen viel mehr reichlich durch die Gegend tingeln, ein wenig Sightseeing machen und möglichst jeden Tag aus einer anderen Wand auf einen anderen Berg in einer anderen Gruppe aussteigen.
Wir starten gemütlich, aber eindrücklich, im alpinen Klettergarten des Piz Ciavazes am Sellajoch und folgen den Spuren Luigi Micheluzzis, der hier einen der berühmtesten Quergänge überhaupt durch die Wand zeichnete: 90 horizontale Meter führt die „Große Micheluzzi Führe“ in gerader Linie einmal nach rechts in Richtung Pordoi. Eine heitere Angelegenheit in herrlicher Exposition — vielen Dank, Herr Micheluzzi! Der Tag ist noch jung, als wir am Gamsband aussteigen und wir beschließen, ganz im Sinne des Sightseeings, ganz als Touristen, noch auf den Dritten Sellaturm zu schlappen. Das ist über den Jahnweg auch schnell getan, für die Aussicht lohnt sich die Sache eh. In diesen Touren gibt es noch den ein oder anderen Bohrhaken zu clippen. Das lassen wir in den nächsten Tage jedoch bleiben.
Unser zweiter Tag führt uns an den guten alten Valparolla Pass, der schon Schauplatz so vieler Geschichten (vor allem wohl Kriegsgeschichten) war. Auf Stefans Empfehlung hin klettern wir über die „Via M Speciale“ durch die Westwand des Kleinen Lagazuoi und damit auch die zweifellos schönste, beste, großartigste Fünf unseres Lebens: senkrecht hinauf ein schwarzer schweizer Käse und ein jedes Loch henkeliger als das letzte. Hier wurden Sanduhren zuhauf gefädelt, dass es fast Kletterhallenabsicherung bietet. Es ist großartig, wenn man Fels ohne einen einzigen Haken so perfekt absichern kann. Wieder steigen wir früh oben aus, wieder wollen wir noch irgendwas machen und entscheiden, auf den Gipfel zu gehen und durch die unwahrscheinlichen Kriegsstollen abzusteigen, in die österreichische und italienische Militärs sich in einer Mischung aus Technikbegeisterung und Fanatismus hier in die Berge gesprengt haben. Die Alpenfront des Ersten Weltkriegs: sie lief genau hier entlang.
Wir steigen über ein Schuttfeld an, das in einem etwa 80m hohen Aufschwung kurz vor dem Gipfel endet. Da es unüblich ist, hier lang zu gehen, finden wir keinerlei Begehungsspuren, aber einen herrlichen Riss mitten durch die Gipfelwand, der uns gut kletterbar erscheint. Gedacht, getan — die Seile raus und durch da. Wir taufen unsere eventuelle Erstbegehung „Tourisstensteig“, geben den zwei Seillängen einen unteren Fünfer und sind nicht schlecht erstaunt, wie gut die Sache ging.
Kein schlechter Auftakt, für sechs Tage Dolomiten.
Das Bergell. Ort, großer Wände, großer Träume und großer Katastrophen. Als wären sie ewig, stehen die riesigen Granitwände im Kessel des Bondascatals. Doch überall um einen herum rumpelt es kräftig, und das nicht nur vom Cengalo, dessen Ostwand 2017 acht Menschen unter sich begrub. Es ist ruhig hier oben, seit die Sciorahütte schließen musste und lediglich ihren Winterraum für vereinzelte Abenteuerlustige offenhält. Hier ist man garantiert alleine.
Für Stefan und mich stand unmittelbar nach unserer so freudigen Tour am Piz Badile fest: Wir wollen mehr in diesem großartigen Talschluss klettern und schnell war mit der Fuorikante an der Sciora di Fuori das geeignete Ziel gefunden. In einem steilen Bogen zieht dieser Zahn scheinbar überhängend empor und bricht — na klar, aufgrund eines Bergsturzes — viele hundert Meter ab. Und wenn sich alles um sie herum in Nebel hüllt, erinnert die Fuori fast ein wenig an die Petit Dru.
Stefan und ich sind ein eingespieltes Team. Zwar sind wir seit einem Jahr nicht mehr miteinander geklettert, jedoch flowt es ab der ersten Seillänge so effizient und wortlos dahin, dass wir die eigentlich geplante Mittagspause schlicht vergessen. Ein gutes Stück früher als erwartet stehen wir der Kante obenauf und sind selbst ein wenig überrascht.
Zur Kletterei zitiert Walter Pause einen „Ostschweizer Felsenmann [Niedermann?]: Ein Weg durch einen Steinbruch, brutal und ungemütlich. Weg der Rißschinder und Todeskandidaten. Einmal und nie wieder“. Wir sehen die Sache etwas anders: Die Kletterei ist begeisternd und für eine Tour dieser Länge (inkl. Direkteinstieg ca. 850m) immer wieder unerwartet gut. Das besondere an dieser Kante ist, dass sie ein ganzes Stück kantiger als so viele andere Kanten ist: Die linke Hand greift irgendeine Leiste, die rechte Hand sauber die unmittelbar abbrechende Kante. Und das nicht nur an einer Stelle, sondern über viele Seillängen. Hier haben die Standplätze eine Exposition, für die man sonst von Hochhäusern runterschauen muss.
Insgesamt ist die Tour mit der Cassin am Badile vergleichbar, wobei sie schwieriger, aber zumindest teilweise viel besser abgesichert ist. Durch den langen, anspruchsvollen und teils heiklen Abstieg, wird die Sache auch einen Ticken wilder. Wir empfehlen unbedingt das großartige Topo (und Update) von topoguide.de, vor allem in Bezug auf die schwierige Abstiegssituation, die sich seit einem — logisch — Felssturz nochmal etwas verschärft hat.
Es kommt nur selten vor, dass es Kletterfotos von demjenigen gibt, der üblicherweise die Kamera mit in die Touren schleppt. Und so kommt es auch, dass es aus den vielen Jahren wenn überhaupt nur zwei Hände voll Kletterfotos von mir im Vorstieg gibt. Ich bin Philipp Klein (https://www.instagram.com/philippklein/) sehr dankbar dafür, dass er hiermit ein wenig aufgeräumt hat und diese wunderbaren Fotos von unserer gemeinsamen Tour auf Pedra Longa geschossen hat.
Wahrscheinlich stammen die Fotos aus der Tour "Marco" (7a, 100m), aber so ganz sicher sind sich Aleksandra "Ola" Taistra und ich nicht gewesen, ob wir da wirklich richtig abgeseilt sind.
Vielen Dank dir, Philipp
Fährt man von den wilden Küstenwände rundum Baunei eine knappe Stunde in Richtung der Berge des Kernlandes, stößt man auf das Bergdorf Ulassai, eine bunte Enklave in dichtem Grün. Wie Tafelberge erheben sich ringsum die Hügel, über weite Teile vertikal in gelb und grau abfallend und damit unbegrenzte Möglichkeiten für das Klettern bietend. Die Weite der Landschaft mit ihren felsigen Inseln erinnert an einen Ort, den ich nicht kenne, von dem ich aber ein Gefühl habe. Es könnten die Felsregionen Südostasiens sein, könnten entlegene Regionen wie Madagaskar oder Sri Lanka sein.
Aber gut, wir sind hier zumindest quasi in Italien und daher reißt einen auch die Omnipräsenz deutscher Urlauber jeder Coleur aus den schönsten Höhenflügen der Sehnsucht hinaus in die brutale Realität der einander anplärren- und keifenden Ostertouristen, die ihre Seile wie Handtücher vor Routen platzieren.
Uns soll’s recht sein, hier gibt es mehr Fels als man sich träumen kann, vor allem, wenn man bereit ist, mehr als 10 Minuten dorthin zu gehen. Der typische Ulassai-Besucher bleibt nämlich lange im sog. „Canyon“ stecken: einer in der Tat beeindruckenden Schlucht mit Unmengen von harten wie leichten Routen direkt nebeneinander, allesamt unheimlich gut, lang, sonnengeschützt (das ist den Sportkletterern wichtig) und familientauglich.
Zwar schimpfe ich über die Lauffaulheit der Locals, über den Canyon jedoch darf ich nicht zu sehr schimpfen, schließlich durfte ich hier etwas sehr Neues lernen. Ich muss Sarah Schönberger herzlichst dafür danken, dass sie mich motiviert hat, mal eine Route öfter als zwei Mal zu probieren — das habe ich nämlich seit über 10 Jahren nicht gemacht. Und es öffnet einem dann doch die Augen, was für einen selbst klettertechnisch möglich ist, wenn man sich mal länger mit den Bewegungen einer Tour auseinandersetzt.
Meine tradierte Maxime, nämlich das Klettern als inneres Ereignis aufzufassen, hat hier nochmal eine relevante Ergänzung erfahren: Dass nämlich die innere Unruhe kurz vor dem Durchstieg eines harten Projektes ein tiefes Erleben sein kann (ganz gleich ob der Durchstieg dann gelingt oder scheitert (selbstverständlich scheiterte meiner; bei maximaler Annäherung)).
Ich bin nicht für dieses Schattenklettern und auch nicht für zu viele Tage an einem Ort. Aber das eine intensive Auseinandersetzung mit einem verhältnismäßig kleinen Stück Wand ein Genuss sein kann, ja, das kann ich nicht ganz abstreiten.
Take a good photographer, a good climber and one other and send them to the Baunei area for four days. Everyone with their qualities, everyone with their own abilities. Let them hang out in a hard big wall for a bit, let them visit some scenic corners. It will be a firework of ideas including concrete implementation.
Philip Klein, Ola and I each spent two days in Genius (8b, 300m) and on the Pedra Longa rock ship to capture the most beautiful moods, the hardest moves, the longest runouts and a good friendship. I can't thank them both enough for this amazing time.
There is so much to learn here, so much opportunity to grow. It is simply inspiring to accompany Philipp in working out ideas and then executing them. It is fascinating and motivating at the same time to rappel down the 300m of Genius with Ola again and again and then to jug up again like a mule on a rope. And it's just a lot of fun with each individual, and even more so with both of them, roaming around and drinking tons of Sardinian Cannonau.
I'm really looking forward to the results. They will not only be artistic top class, but also the documentation of a great time together. The pictures will then be available at Philipps, whose page I can only recommend (https://www.instagram.com/philippklein/). This man is a great photographer and a great person.
Back to Sardinia, back to Punta Giradili, this incomparable magnificent wall. The dimensions of this 400m vertical pillar can hardly be measured, neither from below nor from above, nor from itself nor from a distance. It is the third route that we climb here and also the most beautiful and varied: "Setti anni de Soltidudine" (7a, 400m). With a seven-year hiatus, the French maître of bolts, Michel Piola, has drilled 13 pitches of the best I've ever climbed: every pitch, every movement is exciting, persistent, wild. With impressive continuity, the route works its way through crazy dihedrals, complicated slabs and roofs full of holes with a high grade of difficulty. A formative journey from which you never come back the same.
But that applies, at least for me, to all routes at Punta Giradili. I don't know if I've made such great progress as a climber in such a short amount of time before. In the three routes "Mediterraneo", "Wolfgang Güllich" and "Setti anni" I learned what climbing can be. What is possible for me. The high difficulties, the enormous length, climbing all pitches lead — a new establishment that I would not have thought of before.
I have a lot to thank for to Aleksandra. Without someone who pushes you, believes in you and takes away your doubts, it is difficult to start and get to know the new. With some luck, I can be the same to her, on a different wall and niveau, but factually similar.
Thanks for doing this together. Thank you for learning together here that all that matters in climbing is to have fun. The body is secondary, because it can do amazing and unexpected things if the mindset and the company are right.
Noch ein bisschen vermischtes und übriggebliebenes:
Die einzige wirklich hundertprozent regensichere Option zum Klettern ist die spektakuläre Millenium Cave bei Cala Gonone. Ein Mekka überhängender Tufa-Kletterei. Die Dimensionen sind so gigantisch, dass hier nur ein Bruchteil der möglichen Fläche eingebohrt ist und nur sehr einzelne Routen die gesamte Höhlenlänge durchmessen. Ein wilder Tag mit Beata Dziedzic und Aleksandra Taistra.
Mit Freund Simon aus Freiburg kletterte ich am Monte Oddeu die dem Namen nach unscheinbare Traumtour „Alfredo Alfredo“ (7a, 200m): Entlang einer großartigen 60m Tufa-Verschneidung klettert man am Rande eines Plattenschildes um schließlich in wilden Dächern eine umgedrehte Treppe zu erreichen. Ein veritabler Brechkater mit stetem Potential zur Oralentleerung mindert den Spaß keineswegs, lässt mich aber glücklich und zufrieden den ganzen Tag nachsteigen. Wir haben ja gelernt: Beim Multipitch-Sportklettern steigt immer nur eine*r vor
Ebenfalls bei Cala Gonone habe ich mich einen Tag in den Platten des klassischen Sektors La Poltrona vergnügt. Ob es sich hier um lohnende Kletterei handelt, mag jeder selber beurteilen. Das Ambiente in diesem direkt an der Ortschaft liegenden und 150m hohen Parabolspiegel ist jedoch wunderbar und wunderbar speziell. Das Abseilen mithilfe einer 6mm Tag-Line ist mindestens ebenso speziell, wird aber wahrscheinlich künftiger Standard in Solotouren.
The Traveling Rock Climbers, they're everywhere. While Facebook is always happily written off as a boomer platform, it is home to some wonderful and wonderfully nerdy communities. When it comes to wackiness, nobody can hold a candle to the Lead-Rope-Solo community, but right after that comes the 15,000-strong group of busy climbers. There isn't a place in the world where you won't find someone who is very happy to tie with you into the rope.
So of course this time too: Beata from Poland is spending the winter in Sardinia and is working remotely in Dorgali. It wasn't initially clear that this acquaintance was to mean a small turning point in your own way of life — but we liked each other anyway.
Since we want to have the aquamarine of the sea right under our feet, we are looking for a multipitch route (also eine „Meerseillänge“) that takes us exposed and directly above the water. We want to climb the iconic Pedra Longa, this church nave jutting out into the sea, next to the Aguglia di Goloritzè the second wild tower of the Sardinian east coast. In a left traverse of seven pitches, the route "Marinaio di Foresta" (6a+, 190m) leads us through the flank facing the sea. It is a really uniquely sharp rock that bites into fingers, material and shoes here, an oversized cheese grater for a fondue made of rubber and rope abrasion. We are more than happy to have our second shoes and old rope as Pedra Longa really wears out.
It's a place to sit forever. To the left behind begins with the Punta Giradili, this most beautiful wall, the uninhabited cliffs towards Cala Gonone, on the right green macchia hills wind towards Arbatax, in front of you the open sea.
Thank you Beata Dziedzic, thank you for starting this story together!
As every day, we reach Monte Ginnircu with an expansive hangover, which at least forces me to wrestle with my tummy at the parking lot after the bumpy journey over the winding pothole road.
But this days ascent of the penultimate length (7a+, 30m, 3 bolts) of Genius gives us a remarkable anecdote: the pitch begins with an exposed and tricky traverse in bad rock to a bolt. Then the next bolt follows after 10 difficult meters — a tricky passage, as there might be serious consequences if you take a whipper here. While abseiling I had found a good crack between the two pitches which, after cleaning out the dirt in it, made room for an excellent nut.
The redpoint attempt demanded a lot from Ola. Already the traverse at the beginning of the route had to be climbed twice to get used to the terrain. We proceeded cautiously, every movement costs effort here. Ola can clip the sling on the nut and climbs more and more confidently. But three meters above the nut, a flake finally breaks and after a decent whipper, Ola sits on the rope at about my height. We both look up, she's sitting in the nut. As we understand what just happened here, we both start laughing, our screams echoing through the surrounding walls. It was a fall in the worst possible place — but the nut saved the day. Ola comes back, we hug and then she climbs through the thing cleanly.
But not only that, also the last, even worse secured pitch, which was only 'defused' by a few bad friends and a more than questionable sling (old trad climbing rule: the gear doesn't have to hold, it just has to be there). But Ola has already discovered her new self-confidence and is now practicing it diligently: "F**k, I guess I won't be afraid of anything in the next few weeks." Yes. We are here for this self-confidence. We are working on that. Falling into the nut was one key in cracking the entire line. It's nice to have been part of the solution.
Giradili to the second:
Back to what is perhaps the most beautiful wall on the whole island, back to the 400m high pillar. This time not just along the edge, but straight through the middle: the classic route "Wolfgang Güllich" (7a, 390m, 13 SL) runs up the entire height of the pillars central part. Established in 1995 in homage to the late master of Enzo Lecis from above. Although the route is not always entirely logical, the rock is razor-sharp and free of chalk and other traces. Now that we've finally agreed that only one of us will lead each day, it was my turn again and, well, I haven't lead that long and that hard before. But of course it remains pure joy: With Mare Mediterraneo, Pedra Longa and the rest of the east coast in the back, it's easy to dance up the fairly vertical wall and everything succeeds except for the crux in the first attempt.
It is such a great privilege in climbing that you can experience so much together as a team, even if you are at a completely different level. You accompany each other in the respective projects and experience the adventure together. Whether on the Ginnircu or on the Giradili: we always have each other with us and always grow a little further for ourselves, but also together.
"Let's do something that will help me improve as a climber."
"All right, then maybe we should just skip the bolts."
"..."
It's one thing to do hard moves on well-secured routes: you fight your way unconditionally to the fall limit and over it, because the moves demand this of you and a fall usually has no consequences. Sport climbing is the name of the matter and the increase in difficulty is inherent in the whole thing. It's another thing to climb easier routes with no bolts and maybe crappy rock: you're trying to move safely enough to have total control over the movements and positions you adopt at all times. You climb carefully and calmly, check the rock, orientate yourself on the lines (which are not given by bolts here) and check suitable places for the mobile gear. It's called alpine climbing and it's often a quieter affair than the adrenaline-charged banging in sport climbing.
In order to get a little more feeling for handling nuts, friends and slings, we drive to the classic area of Surtana: a long, almost 200m high crag in an uninhabited valley in the Supramonte. It is so quiet here that you have to make sure again and again whether it is really a strange voice or just your own echo, which was heard in the complete silence by the ear.
Heavy weighted, Ola climbs her first full trad lengths. Small cracks, large cracks, classidras, trees, and roots now become her anchors. Despite the noticeable tension, which is also noticeable in a somehow stiffer climbing style of the otherwise so fluently moving sport climber, she finds excellent placements and uses her gear with great intuition. Just as I was irritated a few days ago about the fact that I should really lead all pitches at Punta Giradili, Ola was amazed that she should now do the same here.
It's nice to see someone make great efforts in a technique in a day. The movements became more fluid (although her biceps is of no use here), the pitches more difficult, the cams found their way into the rock faster and faster. But the best thing: The tension when climbing finally made Ola shut up. The waterfall dries up, when shit hits the fan. Even though her german also improved: „Du bist ein Arschloch“ was a sentence often to hear.
It's nice to be able to offer a Trad course for an 8c+ climber — thank you for that. Next time real alpine climbing on really high walls
Punta Giradili — A place straight out of a picture book. It's hard to believe that it really exists. A 450m high smooth pillar directly above the sea, which here shimmers with such an aquamarine, that photos tend you to think that they are over-edited. But far from that, it really looks like it. Underneath, the needle of the Pedra Longa juts out into the sea.
Between the pillar and the 100m high grotto on the left is our destination for today: "Mediterraneo". A difficult line with 7a+ and 250m, but manageable for the short winter days. Persistent difficulty, great exposure, and a bolting policy to get used to at the beginning — exactly what we were looking for.
It's an impressive cold January day by Sardinian standards, it's not getting above 5°C today, a little caressing wind and light rain is not conducive to climbing at the sharp holes. But how is this offset by the ambience, the gigantic climbing and the unique motivation of my great partner! Alpine training in Sardinia.
After two pitches I suggest a change of leading, I'm relatively cold and I can't feel my fingers. For me, who is used to climbing alternately, this is a completely normal process — but the sport climber looks at me in amazement and informs me that I will of course lead all pitches. This wasn't clear to me, but I quickly came to terms with it.
A nice new mode, because you approach a climb in a completely different way: it's a different form of mental exertion that you have to do if you can't playfully rest on toprope in between. Each pitch is a mentally demanding one, since everyone is a lead climb. Most of pitches I’m able to do on-sight and ignore the conditions.
I have to sincerely to thank Aleksandra Taistra for the accompaniment. The tour is by far my most difficult multi-pitch route and I would certainly not have chosen it as an option on my own. Her constant motivation, her belief in me and her constant whining about cold fingers gave me a lot of energy and made it possible. It's nice to expand your own possibilities with a route in a new level of difficulty. Not even to keep looking up the grades, no, that's not my thing. But to keep an eye out for more exciting, wilder tours in the current grade.
Thanks Ola for making me a better climber today.
Sometimes, through small coincidences, you stumble upon trains that are racing so fast that you can neither stop them nor jump off, but on closer reflection you really don't want to. You enjoy watching the world go by, enjoying your hair ruffling in the wind and every yesterday and tomorrow becoming an abstract concept.
Beata, also a Traveling Rock Climber and spending the winter in Sardinia, brought Aleksandra Taistra and me together. And it is one of those decisions that can no longer be undone, but from which it is not at all foreseeable what it means for the lives of those involved. Aleksandra (aka Ola) lives on the island and climbs hard multi-pitches full-time. She does this with an inspiring patience and tenacity, primarily on her own, either on static ropes or in a rope solo. However, her current project is mentally so demanding that she needs someone who 1.) brings a good mood to this creepy wall and stands behind her emotionally, who 2.) has an idea of trad gear and can prepare the easy rope lengths for her and 3.) works with her on the rope solo technique. This someone has now become me and it is pure joy and the greatest horror at the same time. I'm not used to hanging out on static ropes for 300m free and without contact with the rock, to climb this route with jumars and foot loops and also to be wildly drunk every evening (okay, I'm maybe a bit used to that). But it helps if you know how these creepy things are always the same: nasty, but you get used to it.
Now this trio infernale races through the mountains of Baunei in Ola's old Toyota and it's pure punkrock. This story is far from over. She's just getting started.
Photos mainly from the iconic needle Aguglia di Goloritzè and Genius (8b, 300m).
Der Wind wurde an dieser Stelle ja bereits ausführlich gelobt, nicht unerwähnt bleiben sollen jedoch die andern Wetterphänomene, derer es reichlich sind.
Ein wild über dem Mittelmeer zwirbelndes Tiefdruckgebiet rauscht von West nach Ost über die Insel und bringt Sturm, Regen und sogar Schnee. Dabei entwickeln sich die großen Wolkenquellungen vor allem im Inneren der Insel. Diese werden anschließend durch den Mistral an die Ostküste geblasen, lösen sich allerdings etwa einen Kilometer vor dem Meer wieder auf. Die Folge ist eine scharfe Wetterkante, die auch im Tagesverlauf bleibt wo sie ist. Es ist eindrücklich: Da steht diese große Wolkenwand vor einem, der Wind schlägt ins Gesicht, aber das Wetter kommt und kommt nicht näher. Die Sonne bricht immer wieder durch, später jedoch verschwindet sie, etwas früher als sonst, hinter dem Unwetter.
Auf dieser Insel gibt es alles und alles auf einmal und alles gleichzeitig. Alle Felsformen, jedes Wetter, jede Landschaft. Falls der exakt eine Skilift Sardiniens nun in Betrieb gehen sollte, werden die ausbleibenden Winterfreuden des Festlands im Mittelmeer nachgeholt.
Verlässt man die Küste weiter ins Kernland der sardischen Region Gallura, gelangt man rasch in die verspielte Granitlandschaft der Piana Dei Grandi Sassi, der Ebene der großen Felsen. Ein von Ziegen frisch gehaltenes Tal mit unregelmäßig parzellierten Weiden und lustig gestapelten Granitskulpturen. Das imposanteste Bauwerk dieser unwahrscheinlichen Landschaft ist der Monte Pulchiana, ein granitgewordener Pannetone. Solche Monolithen erwartet man in berühmten Regionen wie dem Yosemite Valley, aber sicher nicht auf einer Mittelmeerinsel: gleichmäßige ansteigende Flanken und strukturlose Reibungsplatten. Doch wie bei den großen Geschwistern Kaliforniens zieht auch hier exakt eine Ideallinie durch die spiegelglatte Wand — nur jedoch, dass sie nicht wie dort aus einem Riss in den Berg hinein, sondern aus einer sich nach außen wölbenden Quarzader besteht.
Was für eine Linie!
Mit dem Lineal wurde hier eine 120m lange Diagonale auf den Fels gezeichnet, die ehrfürchtig werden lässt.
Nach kompliziertem Zustieg durch wilde Macchia und Granitgebilde stehe ich in einer kleinen Höhle am Beginn der Ader. Die Begeisterung über dieses Wunderwerk lässt mich noch ausführlich auf den Blöcken vor der Wand herumspringen und es aus allen Perspektiven bestaunen, bis der Überschwang sich soweit gelegt hat, dass das Klettern überhaupt erst möglich wird. Wie immer vorm Ropesolo tanzt das Innenleben zu gleichen Teilen zwischen Anspannung und Euphorie hin und her (dies scheint mir indes der einzig gute Grund fürs Ropesolo und die zugehörigen Anstrengungen zu sein; diese Mischung aus Sorge und innerem Feuer). Aus der Entfernung überwogen die Bedenken: zu hoch, zu glatt wirkte die Platte. Doch hier nun: Begeisterung. Great Expectations. Eine Ehre, hier klettern zu dürfen.
Die Kletterei jedoch erdet mich unmittelbar. Ging es zunächst gemütlich dahin, steilt die Wand ab der Hälfte der ersten Seillänge auf und macht das Stehen pikant. Die Haken sind gut, jedoch distanziert. Einen ernsten Sturz möchte ich hier eigentlich nicht riskieren, zu abgelegen ist der Berg, zu alleine bin ich hier. Während meine sonstigen Ropesolos sich immer in belebten Klettergebieten oder zumindest in der Zivilisation befanden, ist hier in einigen Quadratkilometern Umkreis kein Mensch. Es fühlt sich nach Rückzug, nach Heimgehen an.
Aber gut, es war aufwändig hierher zukommen, also zunächst zwei Schritte zurück und atmen. Und noch ein bisschen atmen. Im zweiten Anlauf löst sich die Stelle gut auf, es war nur Überwindung (klar. Reibungsplatte). Ich hole hier nicht zu weit aus, aber ungefähr so geht es die nächsten 100m weiter: Anklettern, Zweifeln, Zurückklettern, Stehen, Atmen, Zweifeln, Atmen, Sammeln, nochmal An- und Überklettern usw.usf.
Nach knapp vier Stunden für vier Seillängen stehe ich dem Brocken obenauf und gönne mir einen kleinen Jubel, hört ja hier eh keiner. Immerhin der vielleicht schwierigste Gipfel Sardiniens, auf jeden Fall die wildeste Reibungsplatte.
Eine schöne Erfahrung war der Umgang mit der sich immer wieder aufbauenden Furcht: Zu jeder Zeit hätte man umkehren, nachhause gehen und die Wand Wand sein lassen können. Und doch war es nach einigem Atmen immer möglich, die Sache gut und sicher weiterzutreiben. In die Furcht Rein- und Darüberhinauszuklettern. Objektiv ziemlich ungefährlich, subjektiv das reinste Erleben. Und das ist doch das Schöne am Klettern mit Bohrhaken: Dass es subjektiv eine tiefe Angelegenheit und doch objektiv ziemlich sicher sein kann.
Route: Pocahontas, 6a+, 120m, 4 Sl.
Eine knappe Autostunde südlich des Capo Testa legt die Nordküste ihre breiteste Farbpalette an und malt eine Ideallandschaft aus vornehmlich dreierlei: zwischen dunklem Azur und Aquamarin changierendem Meer, immergrünem Gesträuch und tiefrotem Porphyr. Costa Paradiso, ein sinnlicher und die Wahrnehmung überfordernder Küstenabschnitt, einsam und unbewohnt.
Völlig unbewohnt? Natürlich nicht.
Tief in der Macchia, dem bis zu 4m hohen mediterranen Gebüsch und Unterholz, haben sich auch hier einige Einsiedler niedergelassen und durch Schneisen ein Wegenetz zwischen den ins Gestrüpp gearbeiteten Kavernen erschlossen. Hier finden schließlich Zelte, kleine Hütten und Planenbauwerke ihren Platz. Das ist im Grunde auch sehr naheliegend, da es sich um eine sehr einfach durchzuführende Form der Landnahme handelt, die zudem noch unbemerkt bleibt, da das Camouflage der Buschkronen jede Einsicht von oben verwehrt. Hippie müsste man sein.
Die Küste ist wild zerklüftet, durch den anhaltenden Maestrale-Wind schlägt das Meer haushoch an. Es ist unwahrscheinlich, dass das Archipel der roten und grauen Türme diesen Kräften standhält, doch muss man sich keine Sorgen machen, das Zeitverständnis dieser Brocken ist ein anderes, sie halten das schon eine Weile länger aus. Und dennoch senkt man demütig das Haupt vor den Formungsprozessen der alten Erdenrinde. Vor der Zeitspanne, in der sie stattfinden, vor der Kraft, die sie haben. Diese Kraft der Elemente zu spüren, transzendiert in gewisser Weise das eigene Zeitempfinden und vermittelt einen kurzen Blick in das scheinbar ewige Erdenaltern.
Entstehen, Formen, Vergehen. Prozesse, Kraft, Zeit.
Mir macht das Spaß.
2022 war in gewisser Hinsicht das erfolgreichste Jahr der bisherigen Lebenskarriere. In keinem Jahr zuvor war ich in meinem Tun so sehr in der eigenen Mitte, nie so sehr bei mir selbst wie in diesem.
Dankbar und glücklich muss man auch über folgende Bilanz sein: In gut 80 Mehrseillängenrouten und gut 100 Felstagen ist kein einziger Unfall, keine Verletzung, nicht mal eine Blessur passiert. Es gab keine einzige brenzligen Situation, nicht mal einen Materialverlust. Der größte Dank gilt hier den vielen großartigen Menschen, die dieses Jahr begleitet, die diese Erlebnisse erst möglich gemacht haben.
Nämlich: Kira, Hannes, Ina, Martin, Hanni, Jeremias, Merlin, Flo, Stefan, Clara, Marie, Pia, Siobhán, Lydia und Debora (in order of appearance).
Ich danke euch allen sehr unsere gemeinsame Zeit. Euch sei auch das schöne Buch gewidmet, das aus diesem Blog entstanden ist.
Es ist unklar, wohin das nächste Jahr führen wird. Weiter mit dem Klettern? Und noch intensiver? Oder zu etwas ganz anderem? Das soll die kommende Zeit zeigen.
Da sitzt man im nun doch beginnendem Herbst und beginnt ebenso ein wenig Bilanz über das Jahr zu ziehen, für sich selbst einen Rechenschaftsbericht anzufertigen und das erste Klettermaterial in den Keller zu verstauen, doch schließlich — wer hätte es gedacht — weckt ein großer, dem schlecht vorhergesagtem Wetter entgegengebrachter Trotz neuerliche Aufbruchslust.
Sportklettern in Gempen (sonnig&traumhaft), Ropesolo an der Oberbuchsiter Platte (klatschnass&amüsant), kurzer Besuch im Tüfleten (kalt&den Hintern voll gekriegt) und schließlich zur schönsten Form des Kletterns, nämlich lang&frei am Battert. Es gibt weit und breit sicherlich keinen besseren Ort, um für die Vorzüge des Kletterns unter weitgehender Hakenfreiheit zu werben als dort. Die große Auswahl an Touren mit mehreren Seillängen und in moderaten Schwierigkeiten ist unübertroffen, das Ambiente in diesem wilden Riff aus Quarzporphyr ist dem Mut zuträglich und das Glück, nach jeder Tour auf einem Gipfel zu stehen, eine angemessene Belohnung. Wenn Debora auf 60m Höhe im kleintrittigen Quergang mitten durch die lotrechte Falkenwand ihre angespannte Verwunderung verkündet („Und wie bin ich jetzt nochmal hierher gekommen?“) um gleich anschließend beherzt und mit aller Freude den Ausstiegsriss anzupacken, dann belegt sie damit nur, dass Skepsis und Glück hier gerne nah beieinander liegen — was gibt es schöneres. (Nichts. Eben.)
Dass die Badener Wand ab dem 1.1. einigen übereifrigen sog. ‚Naturschützern‘ zum Opfer fällt und für das Klettern gesperrt wird, ist keine kleine Katastrophe. Die Interessen des Wanderfalken sind durchaus auch meine Interessen, aber wie hier mit fadenscheinigen Argumenten die Zusammenarbeit zwischen Klettern und Naturschutz auf die 80er Jahre zurückgedreht wird, ist beunruhigend.
Da dieser bedenklich warme Herbst den Alpen immer noch keinen echten Schnee geschenkt hat, schenkt sich die JDAV Freiburg ein paar goldene Tage auf einer Biwakwiese im Val Bedretto. Was für ein Saisonabschluss. Was für ein Spektakel.
Nochmal zum Thema Glück: Dieses Mal fällt die Abreise aus Verdon fast noch ein bisschen schwerer als beim letzten Mal. Die letzten zwei Wochen waren, falls man Glück quantifizieren kann, die vielleicht glücklichsten des ganzen, ohnehin schon unendlich verrückten Jahres. Natürlich ist eine dreitägige Aktion an der Cassin-Führe des Piz Badile ein intensiveres Erlebnis, natürlich setzt sich eine MSL-Ausbildungswoche mit Jugendlichen in Ailefroide anders fest, als dieser sprudelnde Glücksbrunnen hier. Aber macht man’s wie die Sonnenuhr und zählt die schönen Stunden nur, dann rechnet sich in Verdon einiges und das auch stark verdichtet zusammen.
Woran lag’s? Das ist ganz einfach zu beantworten: Natürlich an den tollen Menschen rundrum. Kira selbstverständlich, zuletzt aber auch das Vierergespann: Julien, Paulo, Siobhán und ich. Vier jeweils alleine reisende Rock Climber in La-Palud, die sich übers Internet zusammengefunden haben und eine kleine Bus-WG am Spielplatz gründeten. Die ganze Woche haben wir nun miteinander verbracht, haben die Tage immer gleich gehalten (Climb, Drink, Sleep, Repeat) und sind zu Freunden geworden. Es sind in der Nebensaison vielleicht insgesamt 30-40 KletterInnen in der Schlucht unterwegs. Die lernt man schnell kennen. Und da der Tag garantiert mit einem absurd-komischen Gespräch mit Philippe beginnt, ist es schwierig, sich hier einsam zu fühlen.
Natürlich ist es auch das ganze Setting hier unten, das einen tauglichen Möglichkeitsraum für’s Glück darstellt. Aber von Exposition, Tierwelt, Felslandschaft, südfranzösischer Leichtigkeit und Abenteuer wurde hier bereits genug geschwärmt.
So paradox es klingt, aber gleichzeitig kann dieses tiefe, ruhige Glück durchaus in eine Krise stürzen: Wieso diese Daseinsweise nicht verstetigen? Wieso überhaupt zurück ins Wohnen, das ohnehin kein Talent von mir ist? Aber es ist kein Wunder, dass diese Fragen jetzt kommen: Verdon war die letzte geplante Reise für dieses Jahr, es war die letzte Aufgabe, das letzte, auf der Tick-List. Jetzt ist alles erledigt. To-Do Liste abgehakt. Alle Pläne erfolgreich durchgeführt. Vielleicht ist es der Übergang zu den neuen Plänen, der verwirrend ist. Die Suche, nach den neuen Aufgaben. Von denen auch noch nicht klar ist, wo sie sind. Sind sie im Klettern (und wenn ja: wie?) oder sind sie anderswo?
Aber meine Mutter hatte (wie meist) einen guten Tipp zum Umgang mit der Situation: „Du kannst ja erstmal einfach glücklich sein. Und dir dann später Gedanken machen.“ Okay. Dann mach ich das.
Merci an alle Beteiligten der letzten Wochen. Merci La-Palud. Und natürlich: Merci le Verdon.
Es ist diese Aneinanderreihung vieler Glücksmomente, die Tage in langen Kletterrouten so vollkommen machen: Am späten Morgen beginnt der Klettertag mit der immer gleichen (und immer berührenden) Aussicht an der Klippe und der steigenden Vorfreude auf das Kommende. Die Abseilfahrt: ein einziger Genuss in die Tiefe. Dann das Abziehen des Seils, das nichts gruseliges an sich hat, sondern im Gegenteil eine helle Freude ist und Commitment bedeutet (wie werden da wieder raufkommen — unter allen Umständen). Schließlich das Anziehen der Kletterschuhe, Partnercheck, Highfive und auf in die erste Bewegung, die immer ein wenig zu eilig, zu hektisch ist, da sich die Konzentration erst gegen das angestaute Glück durchsetzen muss.
Mit jedem Atemzug stellt sich größere Ruhe ein, die Aufmerksamkeit zentriert sich auf den kleinen Bereich in und um einen selbst. Gestern und Morgen gibt es nicht mehr, die Gegenwart beginnt. Die Bewegungen werden flüssiger, der Fels gibt sie vor, doch die kreative und kraftsparende Ausführung ist einem selbst überlassen. Vielleicht wird es schwierig, vielleicht mischt sich etwas Angst, etwas Unruhe, Unsicherheit in den Vielklang der Gefühle. Da wo es spannend wird, hört das Klettern auf eine bloße Bewegung in der Natur zu sein und beginnt eine
Auseinandersetzung mit sich selbst zu werden. Doch schließlich Atmen, Atmen, Kontrolle der Emotionen und Gedanken, Hände sortieren, Fuß setzen… und rauf da!
Haken clippen, Selbstsicherung einhängen, „STAND!“. Der Stand. Dieser gegenwärtigste aller Orte. Hier gibt es nur drei Aufgaben: Die Partnerin nachholen, die Partnerin im Vorstieg sichern, präsent sein. Hier hat man Zeit für das Wichtigste und Seltenste, nämlich einfach nur da zu sein. Der Blick geht nach hier und da, die Atmung beruhigt sich, die Hände arbeiten auf Autopilot mit dem Seil. Wenn es nicht gerade kalt oder gruselig ist, dann kann der Stand immer wieder auf’s Neue das sein, was schwer zu finden ist: Der Ort, den man in diesem Moment gegen keinen anderen in der Welt tauschen möchte. Nirgends wäre man gerade lieber.
Und so geht es über viele Seillängen im steten Wechsel aus An- und Entspannung weiter: Klettern im Flow, Ruhen am Stand, Klettern im Flow, uswusf. Doch irgendwann oben raus. Die Sonne steht tiefer, die Schatten werden länger, Körper und Geist bereiten den Ruhezustand vor. Die Partnerin kommt nach, Highfive, Umarmung, eins miteinander, eins mit den gemeinsamen Erfahrungen des Tages. Und immer irgendwie ein wenig anders, als man noch am Morgen war.
Es ist ein stilles Glück, das diese Tage begleitet. Es ist nicht das exstatisch-rauschhafte Glück, mit dem man ein hartes Sportkletterprojekt beendet. Es ist kein Schreien vor Glück, nichts Haltloses, das sich Bahn brechen muss. Es ist das ruhige Glück, das unterschwellig arbeitet, das tief geht und sich festsetzt. Das lange begleitet. Von dem man zehren kann, wenn man’s braucht.
Danke Klettern. Danke, dass du auf so viele Weisen das Leben reicher machst.
Szene:
Einige Kletterer fragen, ob man denn die entlaufenen Ziegen gesehen habe, die ein alter Franzose verzweifelt an der Schlucht sucht. Nein, natürlich nicht, aber wie auch? Schließlich war man doch selbst noch bis vor einer halben Stunde mit diesem alten Franzosen spazieren, der sich einen großen Spazierstock gesucht hat und sich verabschiedet mit: „Bis bald, ich gehe ein bisschen Spaß machen.“ Ja, ein bisschen (sprich: biSCHen) Spaß hat Philippe, dieser liebenswerteste von allen, der Abends noch mit einer Geierfeder einen Brief schreibt, wobei die Tinte allerdings aus Pastis ist.
Nicht nur im Team, auch für den Solo reisenden Traveling Rock Climber ist La-Palud (sprich: La-Palü; das d sprechen nur die Parisienne und die sind hier scheinbar unbeliebt) im Herbst ein gutes Pflaster: Einige Amerikaner auf Fahrrädern, die ohne Zelt auf dem Spielplatz biwakieren, ein Australier, der sein Zelt etwas versteckt im Acker aufgebaut hat und einige ortsungebunden arbeitende Dauerkletterer. Irgendjemand hat immer Zeit zum Klettern, irgendjemandes Partner braucht immer einen Rest-Day und wird verfügbar. Ich klettere mit Siobhán aus England, die ihr 90-Tage Europa Visum effizient nutzt (ja, das braucht die britische Reisende nun). Den richtigen Verdon-Vibe hat sie schnell verinnerlicht:
„Are you fine with climbing today?“ „Yea lets just try it. And if we fail, er, well, yea I guess then we climb up anyways.“
Aber auch ohne PartnerIn gibt es Abenteuer zu erleben: Die Sache mit dem Ropesolo lässt sich durch das anfängliche Abseilen nach unten auf die Spitze treiben. Hier ist man nun wirklich alleine und muss alleine schauen, dass man wieder heile oben rauskommt. Während ja sonst der Rückzug nach unten immer eine Option ist, lässt man diese durch das Abziehen des Seils bewusst verfallen. Hier geht es auch für den Solo-Kletterer nur nach oben raus.
Ein spannendes Erlebnis ist es aber eigentlich nur im Vorfeld: Wird alles klappen? Was kann schiefgehen? Wie werde ich spontan mit allen Eventualitäten umgehen? Werde ich kreativ oder verzweifelt? Währenddessen dann aber eigentlich eine einzige Tortur: Seilmanagement, Raufklettern, Seil fixieren, Abseilen, Seil lösen, Hochjümarn, Seilverhänger auflösen, Seilmanagement, Weiterklettern, Fluchen, Abseilen, Seilverhänger auflösen, …
Eigentlich gibt es keinen wirklichen Grund das zu tun. Ropesolo ist ein klassischer Futur-II-Spaß: Nicht: es macht Spaß, sondern: Es wird Spaß gemacht haben. Irgendwann.
Es ist so leicht, sich in La-Palud heimisch zu fühlen: Jeden Tag sieht man die gleichen Leute, jeden Tag geht man in die gleichen Bars, jeden Tag grüßen die gleichen Menschen aus den vorbeifahrenden Autos, die man zwar nicht kennt, aber eben immer wieder vorbeifahren sieht. Die angenehm ruhige Gleichförmigkeit wird jedoch stets von der Abwechslung, vom Neuen unterbrochen: Mal hat die Boulangerie zu, also muss man sein Frühstückscroissant bei Joe le Snacky besorgen. Mal hat Lou’s Bar abends zu, also auf zur Bar de la Place. Zudem bleiben die Menschen, denen man begegnet, ja nicht die gleichen: Jeden Tag haben sie neue Geschichten und Abenteuer zu erzählen, jeden Tag haben sie etwas anderes erlebt und sich durch dieses Erleben auch immer ein bisschen verändert. So wie man sich selbst jeden Tag durch die eigenen Erlebnisse verändert.
Dabei hat der Parkplatz in La-Palud etwas von einer WG: Rundrum sitzen morgens die Bekannten vor ihren Autos, sortieren ihr Material, werkeln an ihren Autos, dösen in der Sonne. Immer kann man auf dem Weg vom Klo bei ihnen vorbeischlappen und auf einen Chat bleiben, denn zu sprechen hat man immer etwas: „Und? Was habt ihr heute vor?“ Die Leichtigkeit und Geselligkeit des Südfranzösischen gepaart mit dem Abenteuer großer, aber gut zugänglicher Wände.
Als erstem begegnet man morgens immer Philippe, dem lokalen Dirtbag, der immer irgendwo im Dorf unterwegs ist und scheinbar dauernd etwas zu tun hat — wobei weder man selbst noch wahrscheinlich er eine Ahnung davon hat, was es eigentlich ist. Dieser liebenswürdige Mensch, der verrückt wirkt, es aber nicht ist, da bei ihm alles Handeln klare Entscheidung ist. Direkt danach taucht aber auch schon Adrian auf, der seinen Autoschlüssel verloren hat und jeden Tag im Café auf ein Päckchen mit dem Ersatzschlüssel wartet (das natürlich nie kommt). Jetzt öffnet sich auch die Bustür von Cedric Lachat, dem Schweizer Profikletterer, der hier eine Gruppe führt und mit dieser abends noch lange beim Bier vorm Auto sitzen wird. Julien und Paulo schlafen noch und sind beide alleine hier, bilden nun aber schon eine Woche eine sehr erfolgreiche Seil- und mittlerweile wahrscheinlich eine gute Freundschaft. Sie stehen aber auch gleich auf, immerhin fährt Lorenzo, der junge italienische Saisonarbeiter und Keller gerade einmal am Platz vorbei und begrüßt den Morgen mit fröhlichem Hupen — heute Nachmittag wird Philippe ihn das erste Mal mit zum Klettern nehmen.
Ich sag’s ja. Es ist so leicht, sich in La-Palud heimisch zu fühlen.
Au retour à Verdon:
An kaum einem Ort ist das Abenteuer leichter zu haben als in dieser schönsten Furche der alten Erdenrinde. Gemütlich startet der Tag mit der südfranzösischen Sonne, frischem Croissant und Pain au chocolat, einer kurzen Fahrt rauf an den Abriss der Schlucht und dem direkten Anziehen von Gurt und Helm. Einmal noch barfuss die Straße zur Abseilstelle überqueren und schon beginnt sie, die Fahrt in den 300m saugenden Abgrund, der, stufenlos und kerzengerade, im türkis funkelnden Verdon endet.
Hier beginnt also das Erlebnis in dieser so eigenen Mischung aus Anspannung (schließlich führt der einzige Weg aus der Schlucht kletternd nach oben heraus) und heller Freude über die einmalige Exposition und den einmaligen Kalk. Die Abseilfahrt, eine Fahrt in überwältigendes Erleben.
Irgendwann an einem Stand angekommen, am besten mitten in der Wand, da, wo der Fels am besten ist, beginnt man also der eigentlichen Arbeit: Dem filigranen und so selten kunstvollen Klettern am meist maximal senkrechten und bombenfesten Fels, den die Natur hier mit so herrlichen Strukturen ausgestattet hat. Feine Tropflöcher, scharfe Querrisse, plattige Mulden. Das Klettern hier ist selten übermäßig physisch oder athletisch, hier gewinnt feine Fußtechnik und ein gutes Gleichgewicht — beinahe jedes Problem ist ein Stehproblem.
Nach Stunden in der liebgewonnenen Exposition endet das Abenteuer genau dort, wo es begann: Am Geländer des Belvedere, das als Abseil- und Sicherungspunkt dient. Und eben am Auto. Kein komplizierter Fußabstieg, kein erschöpftes Abseilen über die Route. Man ist wieder zuhause; aber reicher, erwachsener, vielleicht entwickelter, aber in jedem Fall voller Erlebnis. Das Abenteuer ist hier leicht zu haben. Und geschmälert, wird es dadurch auf keinen Fall.
Long time no see, old friends!
„Le montagne più belle del mondo“, die bleichen Berge, das größte Korallenriff der Welt. Nirgendwo ist Wechsel zwischen saftiger Almwiese und senkrechtem Bruchhaufen strenger, nirgendwo das Farbspiel aus Grün (Alm), Gelb (Senkrechter Angstraum) und Blau(em Himmel) eindrücklicher.
Dieses Gebirge hat mich bereits zu so vielen Zeiten und in so unterschiedlichen biographischen Situationen kennengelernt, dass die Besuche hier auch immer zu Dialogen mit der Vergangenheit werden, zum Austausch mit den eigenen Phasen, in denen man sich befand. Der Besuch der erinnerungsträchtigen Orte — ein bisschen, wie der Besuch der eigenen Geschichte. Früher monatelang am Stück, jetzt immerhin mal für drei Tage.
Pia hat sich tapfer geschlagen, waren es doch ihre ersten Klettertouren im gelben Dolomit. Und dass hier ein klettertechnisch anderer (nämlich: wunderschöner) Wind weht, ist allgemein bekannt.
Wir begannen unsere Tage direkt über dem Grödner Joch mit der klassischen „Demetz“ an der Großen Cirspitze (V — 270m). Ein schön wie typischer Dolomiten Fünfer, aussichtsreich gegenüber der Sella gelegen. Der Umgang mit allerlei Klemmgerät und Schlingen ist schnell gelernt und verinnerlicht, so wird das Steigen zum Genuss und die kurzen Überhänge zum entspannten An-Gruseln an größere Fürchterlichkeiten (die aber dieses Mal ausbleiben sollen). Unsicheres Wetter verlangt von uns im weiteren halbtägige Späße: nämlich die anfängerfreundlich eingerichtete „Ghedina“ am Kl. Falzaregoturm (V — 250m), die über eine sehr schöne und frei gesicherte Verschneidung aussteigt und „Ultima Tule“ am Hexenstein (VII+/VIII- — 200m). Letztere ist eine der jüngeren Dolomiten-Sportklettereien und durchgängig mit Bohrhaken gesichert. Die Klettereien am Hexenstein werden stets vom Nimbus des 1. Weltkriegs begleitet, steigt man doch über alte Kriegsstollen zu, baut Stände an Schießscharten oder steigt durch das Labyrinth der Schützengräben ab. Der Hexenstein: Nur ein großer Haufen Steine am Valparolla-Pass und doch Grund genug, sich dafür die Köpfe einschießen zu lassen. „Ultima Tule“ ist eine gute und vor allem schön anhaltend schwere Route mit einigen interessanten Passagen; im Kontext der anderen Touren des „Moderne Zeiten“-Führers aber klar eine der schwächeren.
Strukturell zeichnet Klettertouren ja spezifisch aus, dass sie einen niedrig gelegenen Punkt A mit einem höhergelegenen Punkt B verbinden, wobei die Strecke AB eine (frei)kletterbare Route beschreibt. Diese Form grenzt sie wesentlich gegen horizontale Strecken, wie etwa Straßen, Rennstrecken oder Trampelpfade ab. Nun ist es (vor allem bei längeren) Routen selten so, dass die Strecke AB eine gerade Linie darstellt, wie sie etwa von einem fallenden Wassertropfen von B nach A durchmessen würde. Hier und da muss wegen schlechten Felses ein Schlenker nach links genommen, da eine kleine Querung nach rechts unternommen werden, da ein Dach den Weg der Direttissima stört. Quergänge sind nötig, um AB überhaupt klettern zu können.
Wieviele Quergänge benötigt nun eine solche längere Kletterroute? Erstbegeher Heinz Grill: Ja.
In „Archangelo“ (6c, 300m) geht genau eine der 10 Längen gerade hoch, nämlich die überhängende 6c-Verschneidung ganz zum Schluss. Jede andere Länge verläuft entweder nach links oder nach rechts (oder beides). Wie man hier eigentlich Höhe macht, könnte man sich im 9. Quergang (Zitat Grill: „Unvergesslicher Quergang!“) sicherlich trefflich fragen, wäre man da nicht doch arg beschäftigt mit dem Schieben, Stützen, Fußwechseln und Gleichgewichten an den auf Hochglanz geschliffenen Felskanten. Aber spätestens im Abschlussüberhäng saugen die gemachten Höhenmeter kräftig nach abwärts und man bemerkt, dass man doch nicht nur am Einstieg hin und her gelaufen ist.
Die Tour ist nicht nur hervorragend speziell, sie ist auch hervorragend schön. Solche Sinterstrukturen gehören eigentlich nicht in den Fels unserer Breitengerade — gut, dass sie sich hierher verlaufen haben.
Motörhead & Siebenschläfer
Eigentlich müsste hier nun eine Lobeshymne auf den Remy-Klassiker „Motörhead“ (6b, 500m) stehen: Eine Linie, wie aus kühnsten Freikletterträumen. Die direktesten Verschneidungen, saubersten Risse, elegantesten Platten, und das alles im unwahrscheinlichen Gestein des goldgelben Eldorado-Granits. „Berg und Musik stehen in einem harmonischen Verhältnis zueinander. Entsprechen die Gesten und Bewegungen des Kletterers am Fels nicht einer Art Ballett in der Vertikalen?“ (Claude Remy) Klar, deshalb ist die Route ja auch naheliegenderweise zu Ehren Motörheads und deren 1981 erschienen Live-Platte „No sleep ’til Hammersmith“ benannt.
Diese Route zu loben heißt, Eulen nach Athen zu tragen — dass sie zu Recht zu den größten Granittouren der Alpen gehört, ist allgemein bekannt. Ein Glück, dass die Tour auch heute noch im Originalzustand belassen wurde: es stecken durchschnittlich zwei Bohrhaken pro Länge, entweder an den schweren oder an den nicht selbst absicherbaren Passagen.
Was also am zweiten gemeinsamen Tag klettern? Nach so einem Auftakt? Eigentlich sollte es ja der Niedermann-Klassiker an der Grauen Wand oberhalb des Furkapasses werden. Aber irgendwie hatten wir mit diesem Plan ein Unbehagen: Die Route wird uns voraussichtlich nicht zu sehr fordern und wir würden vornehmlich aus historischen Gründen vorbeifahren. Sollten wir nicht lieber noch ein Abenteuer aufsuchen, wenn wir schonmal gemeinsam unterwegs sind?
Ja, sollten wir, und zwar in einer Tour, für die wir beide nicht nur jeweils einen Kletterpartner brauchten, sondern wofür wir genau uns beide brauchten und wahrscheinlich niemand anderen finden würden (Hanni: „Die Liste der Leute, die das hier können UND auch Bock darauf haben, ist eher kurz“):
Nämlich für ‚die‘ Kult-Plattenroute am Grimselpass: Siebenschläfer (6b+, 450m). Die Benchmark-Tour von 1979, das Testpiece zum Prüfen der Sohlenreibung und des Gleichgewichtssinnes. Das Klettern von Platten im oberen siebten Grad ist im Grunde wie das Projektieren von Sportkletterrouten. Zunächst weiß man gar nicht, ob’s überhaupt geht. Man muss sehr lange schauen, lesen, verstehen, eine Sequenz finden und planen. Und erst am Ende, nach vielen Versuchen auf verschiedensten Wegen gilt dann entweder der Schwierigkeitsgrad „geht“ oder „geht nicht“. Zwischen diesen beiden Einschätzungen gibt es auf Platten meist wenig. Immer wieder erscheint eine Stelle an der (scheinbaren) Grenze des Machbaren. Und dann geht sie doch. Was wohl maximal in solchem Gelände möglich ist? 6c+? 7a? Ich freue mich schon drauf, wenn wir uns auch dies als Irrglaube entlarven.
Die Siebenschläfer war ein solches Abenteuer, dass sie für uns fast ein wenig die Motörhead überschattet. Immer wieder schallt lautes Gelächter durch die Wand: „Das glaubt uns doch kein Mensch!“ Ja, wahrscheinlich wirklich nicht. Die Tour ist ja auch unglaublich (und die 6b+-Länge durch den Aufschwang eine der besten Granitlängen, die ich je geklettert bin). Immer wieder staunen wir die Felslandschaften an, die der Granit hier bildet: Das herablaufende Wasser hat regelrechte Badewannen in den Fels geformt. Dort hinein- und hinauszubouldern, das ist wirklich Endstufe, das ist Klettern an Wundern der Natur. Gottseidank kann man in so einer Tour sehr viel miteinander quatschen und lachen, da es kein Ausdauerproblem gibt, sondern nur viele einzelne Aufstehprobleme (merke: Stehen ist leicht, Aufstehen ist schwer). Alleine ist man hier sowieso.
Welche war nun die bessere Tour? Hanni und ich sind uns einig: keine Ahnung.
Unsere erste ausführliche Tour in das riesige Mont-Blanc-Massiv führt uns für drei Tage auf die Envers-Hütte, die (mittlerweile) weit oberhalb des weit abgeschmolzenen Mer de Glace ihren Sitz hat. Ein idealer Stützpunkt, ragen doch quasi direkt ab der Hüttenmauer dutzende kleine (250m) und große (600m) Granitnadeln empor. Und es ist völlig egal, was man hier oben treibt: man wird immer einen spektakulären Tag genossen haben. Dafür sorgt schon das Panorama aus Grandes Jorasses, Dent du Géant, Rochefortgrat und den Spitzen der Drus, aber auch der unheimlich ins Dunkle saugende Bergschrund nach dem Zustieg über die zerklüfteten Gletscher.
Mit einer an's Wahnsinnige grenzenden Beharrlichkeit hat Michel Piola hier in den letzen 30 Jahren nahezu jede Route eingerichtet, derer eine schöner als die andere ist. Die meist an logischen Linien oder über schöne Platten verlaufenden Touren sind dabei nur an den Ständen und dort mit Bohrhaken ausgestattet, wo keine andere Sicherungsmöglichkeit möglich ist — man dankt es dem eigenen krummen Rücken, dass er unter Klagen zwei komplette Sätze Friends hier herauf gebuckelt hat.
Wir klettern zunächst die vielleicht Mont-Blanc-weit erste Klettertour mit gebohrten Ständen, nämlich „Le Marchand de Sable“ (6a+, 260m, erstbegangen 1983) am Tour Rouge — ein buntes, aber sehr anspruchsvolles Spiel aus Platten, stumpfen Rissen und Verschneidungen. Die letzten Längen zum Gipfel verwehrt uns allerdings ein undankbarer Regen. Nächstentags erwartet uns in „Guy-Anne“ (6a+, 415m) am 1. Pointe de Nantillon zunächst ein spektakulärer 30m-Fingerriss, der schließlich in einen ebensolchen 20m schräg aufsteigenden mündet — traumhaft schön und insgesamt etwas dankbarer als „Le Marchand“, allerdings muss man hier oben allgemein etwas vorsichtig mit Piolas Bewertungsvorschlägen sein. Sie desillusionieren. Hannes gönnt sich an unserem halben Abreisetag noch die 100m lange „Une Gueule du Diable…“ (6c+, clean), „une fissure absolument extraordinaire“. Ein gigantischer Splitter, der mitten durch eine glatte rotgelbe Wand führt — Yosemite lässt grüßen und ich grüße Hannes, der hier einen „absolument extraordinairen“ On-Sight hingelegt und mir einen erinnernswerten Nachstieg beschert hat.
Die größte Freude war es, die Zeit dort oben mit Philipp und Juli aus Innsbruck zu verbringen, so, wie wir dies in der Woche zuvor in der Badile NO-Wand taten (eine „sehr nette, sehr zügige deutsche Seilschaft…“). Es macht einen Klettertrip schlicht reicher, wenn man morgens und abends in größerer Runde beieinander sitzt und lediglich tagsüber jeder auf seinen persönlichen Spielplatz zum Toben geht.
Es war ein kleines persönliches Jubiläum, zu dem es eine besondere Tour geben sollte: Meine 50. Mehrseillänge dieses Jahres begingen Hannes und ich ob unserer Unkenntnis mit den Bedingungen in Chamonix (man muss die Seilbahn reservieren? Oh…) in den nahegelegen Préalpes Vaudoises an einer der größten Platten der Alpen: dem Miroir d’Argentine. Aber nicht eigentlich auf der Platte selbst, sondern vielmehr rechts daneben, im längsten und steilsten Teil der ausgedehnten Wand.
In „Mamba“ (7+/8-, 16 Sl, 500m) haben Yves und Claude Rémy so ungefähr jede Form des Kletterns verbunden: Risse unterschiedlicher Breite, steile Wandkletterei, komplizierte Platten und kleine Überhänge fügen sich zu einer modernen Symphonie zusammen, die in actio in ihrer Vielseitigkeit vielleicht sogar etwas anstrengend ist, sich aber zu einem Gesamtbild verbindet, das man nicht vergisst.
In der Tour ist nämlich auch so gar nichts leicht. Hier und da könnte man vielleicht mal eine Geh-Länge einbauen, aber nein, die Rémy-Brüder führen einen selbst überall dort, wo man mal ein paar Meter fußläufig unterwegs könnte über einen kleinen Boulder oder eine knackige Plattenstelle, auf dass man gar nicht erst auf die Idee kommt, die Hände in die Hosentaschen zu stecken. Alles ist irgendwie anspruchsvoll, nichts gut konsumierbar, jede Länge fordert den ganzen Kletterer.
Merci an die Rémys, die fleißigsten (und immer noch aktiven!) Erschließer der Schweiz. Es ist gut, dass sie es sind.
Ob des etwas fragwürdigen Wetters haben wir eine kurze Trad-Tour am Brévent eingebaut („Retour à la Bretagne“, 6b+, 120m), die wie mit dem Lineal gezogen durch die Gipfelwand zieht. Es ist schon irgendwie eindrücklich: Da stellt man sich morgens mit hunderten von seilbehangenen Menschen an einer Seilbahn an und jeder versucht sich, wie beim Formel-1 Start am Badile, einen möglichst guten Platz zu erkämpfen. Drängelnd wird schließlich die Bahn verlassen um dann wiederum rennend als erstes an die Einstiege zukommen. Wir waren nur froh, das Trad-Klettern nicht das Ziel der Vielen war.
Gar nicht mal der höchste Punkt der Spazzacaldeira (2487m), aber wahrscheinlich ihr meistbestiegener: Die Fiamma.
Eine der szenischsten und sicher auch am häufigsten fotografierten Granitnadeln der Alpen. Ich dachte immer, die Fiamma sei nur ein Posergipfel, auf den sich Touristen fürs Bild von gemütlichen Bergführern raufziehen lassen (immerhin ist ihr Normalweg eine Tour im VI. Grad). Aber naja. Genau so ist es auch: Ein Bergführertrupp nach dem anderen kommt an der Nadel an und bittet jeweils eine andere Seilschaft um ein Foto von dem extra dafür hergerichteten Platz. Und wo wir doch gerade schonmal in der Gegend waren und es um unsere eigene Eitelkeit ja auch immer gut bestellt ist, wollten wir uns doch auch unser Bild abholen (immerhin früh genug, um sich nicht anstellen zu müssen — beinahe, oh Schreck!, wäre niemand zum Fotografieren da gewesen!).
Das Erlebnis „Fiamma“ kann dabei ein ganz unterschiedliches sein, nämlich je nach dem, wie man sich ihm nähert: Entweder über einen Fußweg, bei dem mal die Hände aus den Hosentaschen müssen, oder aber über eine der teils sehr schwierigen Routen vom Albigna-Stausee aus. Wir wählten die Kombination aus „Via Felici“ (6a, 200m — in einem Topo als „schönste Granittour überhaupt“ belobt, und, naja, bisschen arg hochgestapelt, aber zum Teil stimmt das sicherlich: Die dritte steile Seillänge an riesigen Schuppen ist eine der besten Längen, die ich je geklettert bin) und dem ordentlich überlaufenen Nordost-Grat (4c, 150m).
Herrlich auch die abendlichen Perspektiven vom Aussichtsort Soglio auf die Bergell-Kette. Die Wolken spielten ihr lustiges Spiel und gaben nur wiederwillig Blicke auf Badile, Cengalo und Fuorikante frei. Lange warten wir, umso mehr freuen wir uns.
Die Wasserfälle von Chiavenna wiederum sind ebenfalls ein schönes Schauspiel, allerdings sollte man tunlichst die offizielle Biglietteria und ihre Forderung nach Eintritt vermeiden und lieber am Rande über eine Klettertour in den kleinen Park hineinsteigen — z.B. über die lustige „Brasile“ (6c, 150m).
Zum letzten noch ein paar Aussichten aus dem hinteren Aostatal. Das Matterhorn geht sich von Süden her erstaunlich unbeeindruckend aus, faszinierend dagegen die wolkenumtoste Grand Jorasses und der dahinterliegende Alpenkönig.
Piz Badile (3308m) NO-Wand — Via Cassin (VI+, 800m)
„Wen die Leidenschaft für die strengste Form des Bergsteigens beherrscht, der träumt […] schon früh von größten Zielen: Dru-Bonatti-Pfeiler, Marmolata-Südwand, Torre Trieste, Badile-Nordostwand… Immer steht die ‚Badile Nordost‘ ganz vorne.“ (Walter Pause)
Wie hätte es bei uns anders sein sollen? Als uns mit 16 Jahren das erste Mal die alten Pause-Bücher in die Hände fielen, war es immer wieder das Foto des Badile, an dem wir beim Durchblättern kleben geblieben sind. Irgendwann hing dann mal ein Poster dieses Granitbrockens in meinem Zimmer, immer mit der Idee, zumindest mal die Kante, besser noch die Cassin-Führe zu klettern. Schließlich führte eine misslungene pubertäre Baumkletterei zu einem unguten Handbruch und einigen OPs. Nach einer kam ich, tränenüberströmt, im Aufwachraum zu mir und hatte unter der Narkose davon halluziniert, dass die Badile Nordost nun nicht mehr möglich sein wird.
Der Lauf der Dinge sollte ein anderer sein: Anfang dieses Jahres begegneten Stefan und ich uns nach Jahren zufällig in Finale wieder, ratschten rasch über mögliche gemeinsame Ziele und trafen uns sofort in einem geteilten Jugendziel: B-NO. Der 800m hohen Granitwand, einer der sechs klassischen Nordwände der Alpen, der Mauer, die so viel Nimbus umweht: An einem August 1937 steigen die Seilschaften Cassin et.al. sowie Velsucchi et.al. gleichzeitig — und noch als Konkurrenten — in die Wand ein. Letztere haben sich übernommen und bitten darum, sich Cassin anschließen zu dürfen. Am dritten Tag in der Wand zieht ein Gewitter auf und die fünf Männer sind gezwungen, eine dritte Nacht im einsetzenden Schnee auszuharren. Von den fünf kehren schließlich drei zurück, das anschließend geschossene Foto zeigt keineswegs Helden, es zeigt geschlagene Männer.
Unsere Begehung hingegen stand unter einem anderen Stern, nämlich der Sonne und war sicher nicht von Einsamkeit geprägt. Die vielen (10? 12?) Seilschaften, die an diesem Tag durch die Wand steigen wollten, sammeln sich mal als Traube, mal als Schlange am Einstiegsband und gönnen sich nichts. Der Anfang gleicht dem Start eines Formel-1-Rennens: Jeder (also wir) versucht sich an eine noch halbwegs ordentliche Position zu bringen, versucht, die langsamen Seilschaften mit den großen Rucksäcken noch durch ein Abklettermanöver (statt Abseilen) oder eine Variante im Einsteig (Original statt Rebuffat) zu umgehen. Nach ein paar Längen am laufenden Seil haben wir unsere Position zwischen einer (gemütlichen, uns also zu kontemplativen Genuss in der Tour zwingenden) italienischen und einer (sehr netten, sehr zügigen (aber es hilft ihnen nix)) deutschen Seilschaft gefunden. Alpinklettern als soziales Event: Selten hat eine Nordwand wohl so viel Freude und Lachen zwischen den Seilschaften gehört.
Da das Schlüsselstück der Tour, der 3 SL und ca. 120m lange „Wuzelkamin“, von allen sich darin befindlichen Seilschaften gut einsehbar ist, wurde jeder, der sich gerade rampfend und krampfend durch die schwierigen Passagen hoch-wuzelte, angefeuert und beglückwünscht („Ach waas, guck an, waahnsinn! Hier, horsch e ma, warst du net dademals bei de Wuzelweltmeisterschaft in de Achtzischer offizieller Weltwuzelmeister?“, „Naa, bei mir hoat des nur für die Oberbayrische Bezirksmeisterschaft im Wettwuzeln geloangt.“). Für die Kletternden war das sehr hilfreich, da das Schlimmste in einem Kamin schließlich nicht das Rausstürzen, sondern die Angst vorm Steckenbleiben ist.
Zur Route selbst: Wir waren überrascht, wie gutmütig die Tour letztlich doch ist. Klar: Sie ist ein klassischer alpiner Sechser, und das auf eine beachtliche Wandhöhe mit etwa 25/26 Längen bis zum Gipfel. Der Fels jedoch ist gut bis sehr gut, die Sicherungsmöglichkeiten ausreichend und die Kletterei gut gängig. Hinzu kommt, dass es bei guten Bedingungen kaum objektive Gefahren wie Steinschlag gibt.
Insgesamt also gar nicht mal die schwierigste, bestimmt nicht die anspruchsvollste, aber doch irgendwie die größte und mit dem größten Ruf bedachte Tour unserer Kletterkarriere. Und in jedem Fall ein echter Meilenstein, da Stefan und ich mir damit einen echten Jugendtraum erfüllt haben. Danke Stefan, danke, für die gute Partnerschaft im grob-alpinen
Was machen wir als nächstes?
Menschen begleiten, zum Zweiten: Alpincamp der JDAV Freiburg.
Man nehme 17 junge Leute, eine gute Hand voll ausgezeichneter JugendleiterInnen, einen Sack Zuschüsse und einen großen Ausbildungsspielplatz — zB den Talboden von Ailefroide in der französischen Dauphiné.
Acht Tage lang haben wir dort unser Camp aufgeschlagen, um alles nötige zum eigenständigen Klettern von langen Kletterrouten mit vielen Seillängen zu lernen. Viele der TeilnehmerInnen konnten zwar bereits solide bis sehr gut in der Halle klettern, allerdings fehlte den meisten echte Felserfahrung. Biwaknächte, anfänglich begleitetes Mehrseillängenklettern, Wanderungen zum Gletscher (die Steigeisen mussten ob des für‘s Eis katastrophalen Sommers im Rucksack bleiben) — was braucht‘s mehr, zum Entfachen des Feuers für die Berge?
In kaum einer Sportart lernen junge Menschen mehr über Verantwortung und die Reichweite der eigenen Entscheidungen als im Bergsport. Man kann und soll die Jugendlichen fordern, das bringt sie unbedingt weiter. Und spätestens, wenn man zwei 15 jährige in einer 13 Seillängen Tour im Grad 6b+ begleiten darf und die beiden alle schweren Längen selber führen, dann weiß man, dass man es hier mit jungen Erwachsenen und keineswegs mit Kindern zu tun hat. Eine Tour, die alles andere als selbstverständlich in solch einer Woche vorkommt.
JDAV und fachsportliche Kompetenz.
Auch wenn wir dahingehend gerne belächelt werden: das geht sehr gut zusammen und wir haben das in der letzten Woche beeindruckend bewiesen. Was die jungen Menschen hier an Programm und Ausbildungsniveau geboten bekommen, ist relativ unvergleichlich. Daher geht der Dank ab die gesamte JDAV-Struktur, aber auch an all die Jugendleiter:innen, die selber anspruchsvoll in die Berge gehen, sich kontinuierlich weiterbilden und ihre Kompetenz mit einer Begeisterung und in einem spielerischen Format weitergeben, die der Alpenverein nicht immer erreicht.
Trotz all der tollen Touren dieses Jahres, ist diese Woche mit ihren fast 60 begleiteten Seillängen bislang mein persönliches Jahreshighlight.
Zentralschweizer Granit: das bedeutet gute Zugänglichkeit, bedeutet viel Plattenschleichen, bedeutet faszinierende Hochgebirgsinfrastruktur und jeden Tag ein neues Glück.
Doch begannen wir unsere Tage mit einem groben Fehler: nämlich an einem Sonntag zu Ferienbeginn den legendär-beliebten Hannibal Turm am Furkapass aufzusuchen. Unzählige Seilschaften wurmen sich kreuz und quer durch die paar hundert Meter besten rot-orangenen Granits, kreuzen und queren von einer Tour in die nächste und schenken sich nichts — vor allem keine Ruhe. Wir machen es uns anderthalb Stunden lang auf einem breiten Felsen gemütlich, bestaunen den Ameisenhaufen und warten, dass die langsame italienische Seilschaft, die vor unserer Nase in den von uns anvisierten „Elefantenrüssel“ (6b, 170m) hineingequert ist, ein paar Seillängen vorauszieht. Aber es hilft nichts. Trotz Pause laufen wir immer wieder auf. Dankbar ist jedoch die Zeit mit den schweizer Seilschaften links und rechts von uns, die vor ähnlichen Hindernissen innehalten müssen. So wird’s ein „gnüssigs Dägli“ in bester Gesellschaft.
Anders aber tagsdrauf in der etwas eigenwilligen Herausforderung des Grimselpasses, nämlich der Routenkombination „Grimsel Marathon“ (5c, 800m): drei Touren zu 24 Seillängen verbunden. 24 Seillängen Platten. Mir springt das Herz und ich mit ihm das Gerstenegg rauf. Clara schlägt sich wacker, es ist ihre erste Reibungsplatte. Aber wie wir aus Studien (Quelle: Internet) wissen, benötigen neue Bewegungsmuster nur etwa 21 Tage, um zur Routine zu werden. Rechnen wir mit ca. 20 nötigen Wiederholungen/Tag so kommen wir auf 420 Bewegungswiederholungen für eine neue Routine. Damit hat Clara mit 24 Sl à ca. 33m (wobei eine Plattenbewegung etwa 1m entspricht) frei nach Adam Riese ungefähr 792 Bewegungswiederholungen vollzogen und damit objektiv und effektiv das Plattenklettern erlernt — ein neuer Skill an einem Tag. Herzlichen Glückwunsch!
Wieso sie jedoch am dritten Tag keine Muße für weitere Platten findet, kann ich zwar nicht nachvollziehen, arrangiere mich aber mit der Rekonvaleszenz ihrer Waden und lasse mich im Bällebad und Kinderparadies „Foxie“ (4c, 350m) zur temporären Verwahrung abgeben. Merke: Klettert man das Seil einfach mal komplett aus, dann werden aus 10 Seillängen auch nur 4.
Das Rätikon: eine Bilderbuchlandschaft, wie sie Bob Ross nicht lieblicher hätte zeichnen können. Für Stefand Erer und mich ein hervorragendes Ziel, da es für jeden von uns genau auf den Kilometer gleich weit entfernt, also exakt in unserer Mitte liegt. Die Wiesen sind hier saftiger, die Seen klarer, der Himmel blauer, die Wände grauer — immer wieder müssen wir uns ob des erdrückenden Liebreizes hinsetzen um zu staunen.
Eine alpine Tour sollte es am Wochenende werden und eine Sportkletterroute. Und da wir für eine gemeinsam geplante sehr große Unternehmung im August unser Tempo testen wollen, fällt die Wahl der Sportroute auf die „Kathedrale“ (6a+, 19 Sl, 750m), die längste Route des Rätikon. Die Bohrhaken geben den Weg klar vor, einzig ein regelrechter Wasserfall, der aus den darüber liegenden Grasbändern drückt, versperrt zwischendurch den Weg und zwingt zum Ausweichen. Was aber dank der hohen Routendichte an der Westwand der Sulzfluh gut möglich ist. Wir klettern effizient, aber ohne zu rennen und steigen schließlich nach vier Stunden auf die Karstebene unter dem Gipfel aus.
Mit ähnlich langen Sportkletterrouten wie etwa der Tessiner „Alhambra“ kann die Tour nicht mithalten, jedoch sind die vier oberen Längen wirklich einzigartig: Man klettert zunächst durch einen Durchschlupf aus einer riesigen Höhle raus um diese anschließend einmal im Ganzen auf ihrem Dach zu queren. Herrlich exponiert, anspruchsvoll und super lustig.
1200 Klettermeter an zwei Tagen. Füße und Finger danken, dass der Terminkalender in den nächsten Wochen anderes, als Klettern vorsieht.
Im extremen Fels zum Zweiten: „Dass die alte Erdrinde im Verfall noch so große Architektur zeugt, ist kaum zu fassen. Die lotrechte Kalkmauer mit dem harmonisch geschwungenen Gipfel steht wie auf ungeheuren Felssäulen, wie gepanzert ziehen Wand und Säulen 500 Meter über diese Kartiefe hinaus. […] Eine edle, die Proportionen des Goldenen Schnitt erfüllende Architektur, die bestürzt und erhebt in einem. […] Ein tief erregendes Erlebnis — ein Bildungseffekt für das Gemüt.“
Was Walter Pause ja wirklich gut kann: Wände so beschreiben, dass man jetzt und gleich und sofort nirgendwo lieber als genau dorthin möchte. Also hin ins Rätikon, rein in die Drusenfluh, in diese felsige Bildungsstätte des Gemüts; und zwar über den Schweizerpfeiler. Charakter und Schwierigkeit der Tour sind schnell benannt: grob-alpin. Ein klassischer alpiner 6er (und da der ja bekanntlich alles sein kann und der dehnbarste Grad dieses Sportes ist, ist die Tour auch mit 7- bewertet). Eine wirklich knifflige Platte führt in die vielleicht räudigste Verschneidung unserer bisherigen Erdentage und weiter in einen aufrichtigen Körperriss. Und schließlich nochmal durch einige beachtliche Dächer bis zum Schluss anhaltend nach oben raus. Wie so oft bei Touren von Max Niedermann zeigt sich: dieser wilde Hund war seiner Zeit einfach weit voraus. Eine solche Route in den 50er Jahren erstzubegehen nötigt Respekt und Ehrfurcht ab. Heute ist die Tour schonend saniert: man darf sich noch ordentlich gruseln, aber verletzt sich im Sturzfalle nicht gleich schwer bis tödlich. Neben Standhaken finden sich pro Länge etwa zwei (nicht immer ideal gesetzte) Bohrhaken.
Stefand Erer und Ich sind jede Länge auf’s Neue unseres Lebens froh, und das, obwohl keine Länge von unten (und manchmal auch nicht zwischendrin) wirklich einladend wirkt. Stefan hat mich vor Jahren durch meine ersten rustikalen 6er der Dolomiten geführt und mir damals neues Gelände eröffnet: Ich war seinerzeit noch mit weit ausgelatschten Kletterschlappen im gemütlichen 4./5. Grad unterwegs und hatte mich auch nie dort herausgewagt — mein Dank an dich kann nicht ausführlich genug sein! Wie schön es ist, nun gemeinsam und auf Augenhöhe durch solche Wände zu gehen und dort gemeinsam zuhause zu sein. Und das auch noch mit einer Selbstverständlichkeit, einem wechselseitigen Einverständnis, einer technischen Routine und einer Effizienz, die den Anschein erweckt, dass wir schon seit Jahr und Tag eine Seilschaft bilden; dabei sind wir erst das zweite Mal zusammen am Seil.
Es verbindet uns selbstverständlich auch unsere Lauf-Faulheit, was uns bei drei Stunden Zustieg doch einiges abverlangt. Zusammen mit den fast vier Stunden Abstieg fragen wir uns des öfteren: Lohnt sich das, für nicht mal fünf Stunden Kletterzeit? Aber wir einigten uns bereits vorher drauf: Schimpfen beim Abstieg ist heute verboten, wir wussten ja, worauf wir uns einlassen!
Und so ist es dann bei unserer Rückkehr doch nur früher Abend, denn: Zwei Dinge hat der Bergsteiger noch nie bereut: früh aufstehen und den 3er Friend mitzunehmen.
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