Metéora — Zwischen Himmel und Erde

Über die heiligen Felstürme von Kastráki und Kalambaka.

Angebunden an die Erde steht der sehnende Mensch unter seinesgleichen und schaut zum Himmel hinauf, auf der Suche nach der Absolutheit. Seine Grenzen sind die der Weltlichkeit, die er erst am Ende seiner Existenz hinter sich lassen und überschreiten mag — wohin er dann kommt, ist Ding seines Geschmacks.

Aber was ist eigentlich dazwischen, zwischen Himmel und Erde? Ich weiß es auch nicht, aber es ist eine Reise wert. „Metéora“, das bedeutet als Adjektiv μετέωρος auch so viel wie „in der Luft schwebend“ und beschreibt damit Dinge in jenem Zwischen, das Oben und Unten trennt. Auf der Suche nach Einsamkeit und stillem Zwiegespräch mit seinem Herrn, gründete im Jahre 1344 der Mönch Athanasios das Kloster Metamórphosis auf dem Gipfel einer jener Felstürme am östlichen Rand des Píndos-Gebirges. Milliarden kleine Kiesel buk die Erdgeschichte hier zusammen, verklebte sie ordentlich mit Kalk und Uhu und ließ Wind und Wasser tun, was wir Kletternden so sehr an ihnen schätzen: Felsen formen.

23 weitere Klöster entstanden, sechs sind geblieben und dienen weiterhin ihrem Zweck, Orte der Vermittlung für diejenigen zu sein, die es auf der Erde kaum zu halten scheint. Schwarz und Rot prägt die Decken und Wände des Άγιο Βήμα, des Allerheiligsten der Klöster. Dunkel sind auch die Wandmalereien über das Leid der Märtyrer, deren Blut aus den Giebeln tropfen will. Doch scheint das Licht jenes Herren, für den sie starben, auch hier hinein oder wird zumindest materiell im glänzendem Gold der Verzierungen, Rahmen und Deckenleuchter. Es scheint kein fröhlicher Glaube zu sein.

Mich beschäftigt an diesen Orten vor allem eine Frage: War es eigentlich das Christentum, dass uns eines der Axiome unseres Denkens vermittelte? Nämlich das, der Polarität? Von Hell und Dunkel, von Dies- und Jenseits, von Gut und Böse, von Schuld und Erlösung? Nicht, dass man es ändern könnte, aber: Haben wir dadurch gewonnen oder verloren? (… und da ist sie dann schon wieder: die Polarität)

Der Sonnenstunden sind es viele auf diesem Breitengrad, doch steht deren alloffenbarende Klarheit Transzendenz und Sakralem nur schlecht. Erst wenn Nebel sich um ihn hüllt, wird sich der Mensch zum Rätsel und mit ihm die scheinbar schwebenden Klöster. Dort also, im Zwischenraum, leben und beten sie, die orthodoxen Mönche in finstrer Kleidung und dunklen Bärten. Das taten sie damals, das tun sie heute. Und nicht nur in den Mauern der Klöster selbst, sondern in den Gassen Kastrákis, in den Tavernen am Straßenrand, in den zahllosen Schreinen, die verschlungene Pfade zwischen den Felsgestalten zieren: Beten, das ist hier nicht nur der Mönche Sache. Selten bin ich so intensiv gelebten Glauben begegnet, bei dem ich die oft allzu leicht geübte Kritik doch bei mir halte und mir ein Urteil verbiete. Aus Respekt für das gelebte Leben der Menschen, aus der programmatischen Offenheit des vagabundierenden Touristen, aus der immer wieder praktisch zu übenden Überzeugung, dass der Urteile genügend in der Welt sind.

Die Polarität von oben und unten, die absolute Differenz von Himmel und Erde: In Metéora erscheint sie aufgehoben, vermittelt, versöhnt. Die Synthese eines Wiederspruchs, in Form von Kieselsteinen und Uhu.

Es waren keine geringeren als die Dresdner Visionäre Dietrich Hasse und Heinz Lothar Stutte, die ab den 70er Jahren regelmäßig nach Thessalien reisten und sich systematisch an die Erschließung von Kletterwegen auf die Kieselgipfel der Metéora-Felsen machten. In sächsischer Tradition führten sie ihre Erstbegehungen mit lediglich einer Mindestanzahl Ringen aus und brachten oben die typischen Schatullen der Gipfelbücher an, die einen jeden sächsischen Sandsteingipfel ziert. Die Routennamen der heimischen Wege brachten sie gleich mit: „Talwand“, „Ostkante“ oder „Gemeinschaftsweg“ sind bis heute die gängigen Bezeichnungen, die Topo und Gipfelbuch zwar auch auf Griechisch angeben, jedoch, ohne das Original zu unterschlagen, auch immer in Doppelbezeichnung.

Kieselklettern. Das ist keine physische Angelegenheit, das ist Achtsamkeitsübung und Seelenkontrolle. Der sächsische Stil blieb nämlich maßgeblich und bis heute sucht man häufig einen ersten Ring, der einem erst lange nach dem mutigen Aufbruch ins Ungewisse in der Ferne erscheint. Zweifellos: Wo ein Ring steckt, da braucht man ihn auch. Dazwischen jedoch klaffen gewünschte und faktische Realität gerne auseinander — wo und wie oft das passiert, variiert dann individuell Hier und da eine fragliche Schlinge um einen abschüssigen Block unterstützt die Moral zwar nach der klassischen Trad-Weisheit: „Muss nicht halten, muss nur da sein“ — an den exponierten Situationen, in denen man sich befindet, ändert sie jedoch nichts. Und diesen ist man sich besser bewusst: Nicht nur um der heilen Knochen willen, sondern auch der Seele, die diese Auseinandersetzung im Innersten zu rühren vermag und die es einem sicher dankt.

Nicht nur die Mönche kamen zur Auseinandersetzung hierher, auch wir tun es und werden nicht enttäuscht. Doch im Dezember ist hier Herbst und es ist das wildeste Spiel aus Farben und Blickwinkeln, aus Wolken und dem, was sie uns verdecken oder freigeben. Die Kehrseite ist die erhöhte Luftfeuchtigkeit bzw. der Dauerregen, der die Nordseiten verschließt, uns aber über magisch fluoreszierendes Moos vertikal bis geneigt wandeln lässt. 

Überall fasst der Blick Kompositionen eigentümlicher Perfektion. Als hätte die Erosion, den Goldenen Schnitt im Sinne, bewusst gearbeitet. So wild und ursprünglich hier vieles daherkommt, die Gestaltung der Blickachsen schreibt man nur unwillig bloß natürlichen Prozessen zu. Aber ist dies vielleicht wieder jenes Zwischen, dem man hier so subtil wie stetig begegnet? Der Zwischenbereich, der die Dualität von Oben und Unten, von Gestern und Morgen, von Dies- und Jenseits für den Moment zur Synthese vermitteln mag: Vielleicht besteht er im Moment des bewussten Tätigseins an diesen Wänden. Ganz gegenwärtig, zwischen der Zeit, zwischen Oben und Unten.

Die heiligen Felsen von Metéora also. Überall dazwischen. Zwischen Abenteuer und Transzendenz.

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