Dolomiten (2) — Campanile Basso

Hell doch fahl erleuchtet liegt das Val Brenta Alta vor uns, das wir bei Nacht und ohne Stirnlampen durchmessen. Zu unserer Rechten erheben sich Crozzon di Brenta und Cima Tosa, in deren Wänden sich nach wie vor eine Seilschaft befinden muss, deren Lampenschein wir am Abend noch gesehen und die den Weg hinunter offenbar nicht mehr gefunden haben. Schweigend nähern wir uns unserem Ziel; zu ehrfürchtig begegnen wir der Stille, die zu stören wir fürchten. Vielleicht sind wir aber auch einfach noch müde. Nicht, dass Wetter oder Zeit pressiert, aber wir sind beim Klettern gerne alleine. Und haben das frühe Aufstehen noch nie bereut.
Der Campanile Basso (oder im Deutschen: Guglia di Brenta) ist ein unverschämt frecher Turm, dessen Verhältnis aus Masse und Grundfläche der Physik zu trotzen scheint. Ein scharfer Riss trennt die Basis dieses Glockenturms von seinem Schulterblatt und beschreibt so eine 350m hohe Verschneidung, die einem offenen Buche gleicht.
Die Fehrmann-Verschneidung (V, 350m) müsste eigentlich Smith-Verschneidung heißen. Schließlich stieg seinerzeit 1908 der Amerikaner mit Dresden-Spleen Oliver Perry-Smith die Tour vollständig vor. Sein langjähriger und weit bekannterer Seilpartner Rudolf Fehrmann, seines Zeichens Autor des ersten sächsischen Kletterführers, Erfinder der dortigen Kletterregeln sowie Nazi-Richter, wurde jedoch schließlich Namenspate.
Zweifellos: Die Tour ist von erlesener Schönheit. Am Campanile finden wir beste Kletterei von unten bis oben, hervorragenden Fels in moderaten Schwierigkeiten und ebenso sehr gute Absicherung/Absicherbarkeit. Dazu kommt eine beachtliche Länge von 14 Seillängen, die sich mit der Gipfelvariante auf ca. 20 verlängern lassen.
Stefan und Ich sind uns uneins, welche unserer beiden Brenta-Touren nun eigentlich die bessere ist. Ich bin Team Campanile, da es sich für mich hierbei schlicht um die vielleicht beste alpine Genusskletterei handelt, die ich kenne (das sehen übrigens viele so, zumindest sagt uns das der stellenweise etwas gebrauchte Fels). Stefan ist Team Crozzon und gibt der Via delle Guide den Vortritt.
In mystisches Nebelkleid hüllt sich unser Turm beim Abstieg. Und wir fragen uns nicht zum ersten Mal: Droht da schon Gewitter oder sind das bloß Brenta-Nebel?
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Für Freund*innen dieses einen alten Buches hier ein kurzer Auszug aus der ersten Auflage von Pauses „Im extremen Fels“. Und zwar weil ich es so schön finde, wie auch WP die Schönheit von Touren trotz ihrer verhältnismäßigen Harmlosigkeiten preist:
„Wie wir unsere extreme Leserschaft zu kennen glauben, lächelt sie über diese mit IV und IV, A0 bewertete Führe, weil sie im Schwung ihres hochstrebenden Klettergeistes nur nach oben blickt: Sie starrt begeistert auf unsere phänomenalen Civettawände, blättert sich Marmolata-Süd- und Zinnen-Nordwände vor, bummelt durch die Seiten der schon eine Winzigkeit schwächeren Kaiser- und Wettersteinführen… Und diese Fußstein-Nordkante, diese Guglia di Brenta, Punta Fiames und Roßkuppenkante werden uns nie verziehen. Wir akzeptieren es, weil wir alles sehen, alles begreifen und auch an jene Zweit- und Drittklassigen unter den Extremen denken, die, von Schönheit und Gewalt des alpinen Erlebnisses berauscht und erhoben, die kleinen Unterschiede gar nicht so genau sehen wollen… Kurz und gut: Hier ist das ‚Weltwunder‘ der Alpinisten von der Jahrhundertwende […].“
Danke Walter, dass du auch für uns Zweit- und Drittklassige etwas im Angebot hast und aus zu Schönheit und Gewalt des alpinen Erlebnisses begleitest ❤

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