Ich sah einen kleinen Gebetsschrein, vor dem dutzende Plastikflaschen voll Wasser zu einem Haufen gestapelt waren. Vor mir liegt eine Urbanización, eine jener Retortenstädte, die als Immobilienanlage für reiche Käufer aus dem Norden gebaut wurde und die hier einerseits vom Mittelmeer und andererseits von der Anhöhe begrenzt wird, auf der ich stehe. Für die spanischen Urbanizaciónes wird trockenes Brachland zunächst mit Infrastruktur erschlossen und anschließend in einheitlichem Stil bebaut. Musterhäuser werden in die passend parzellierten Straßensysteme gesetzt, um Gemeinschaftspools ergänzt und schließlich eingezäunt und mit einer Kontrollpforte versehen. Steht es um den Immobilienmarkt günstig, wird das System der Straßen erweitert und weitere Siedlungen im jeweils aktuell vorherrschenden Stil ergänzt. Ausgedehnte Urbanizaciónes bilden so ein Freilichtmuseum des architektonischen Geschmacks der verschiedenen Zeiten. Steht es um den Immobilienmarkt schlecht, bleiben verwaiste Straßen in strenger Anordnung zurück, planierte Flächen identischen Formates, Kreisverkehre mit bloß angedeuteten Ausfahrten.

Um die vor mir liegende Urbanización steht es gut. Frische Farben kleiden die Gebäude, die rund um einen Golfplatz angeordnet sind. Palmen zieren die Straßenzüge, eine kleine Marina ist mit Sportbooten gut belegt, am Ende des Strandes wird ausführlich gebaut.
Almerimar liegt in der Comarca von Poniente Almeriense, einer regionalen Verwaltungseinheit der Provinz Almería im östlichen Andalusien. In der Region herrscht Halbwüstenklima: an keinem Ort Spaniens regnet es weniger, die Sonne scheint an einem meist wolkenlosen Himmel. Nicht weit nördlich befindet sich mit der Desierto de Tabernas die einzige echte Wüste Europas. Bis in die 80er Jahre diente die Region als gern genutzte Kulisse für Westernfilme: Sergio Leone drehte hier Klassiker wie ‘Für eine Handvoll Dollar’ und ‘Spiel mir das Lied vom Tod’.

Der kleine Gebetsschrein trägt die Aufschrift ‘Difunta Correa’. Der Legende nach begab sich María Antonia Deolinda y Correa 1841 während eines argentinischen Bürgerkrieges mit ihrem gerade entbundenen Säugling in die Wüste um ihrem verschleppten Ehemann zu folgen. Correa wurde Tage später verdurstet von Gauchos aufgefunden, das Kind jedoch überlebte saugend an Correas Brust. Die ‘entschlafene Correa’ stellt im Volksglauben eine Schutzheilige der Reisenden dar, der vor allem an den Fernverkehrsstraßen Argentiniens kleine Schreine errichtet werden. Wer weit und alleine durch das Land reist, lässt eine Flasche Wasser an einem Correa-Schrein zurück um sicher durch die Wüste zu gelangen.
An der wenig befahrenen Landstraße hält ein LKW in einer Parkbucht. Der Fahrer steigt aus und überquert die Straße mit einer Plastikflasche Wasser in der Hand. Vor dem Schrein bleibt er stehen und schaut auf die bereits dort liegenden Flaschen. Nach einem Moment öffnet er die mitgebrachte Flasche, nimmt einen kleinen Schluck daraus, verschließt sie wieder und legt sie an die Seite des Schreins. Aus der Brusttasche seines Hemdes zieht er eine Schachtel Zigaretten, nimmt eine zwischen die Lippen, zündet sie an und schaut über den Schrein hinweg.
Er lässt den Blick schweifen. Zunächst schaut er hinunter auf Almerimar und den zentralen Golfplatz, anschließend auf das angrenzende Meer. Auf mich achtet er nicht, obgleich er meine Anwesenheit bemerkt hat. Schließlich geht sein Blick über die Urbanicazión hinweg und auf den weiteren Verlauf der Anhöhe. Er schaut auf die langen Bahnen aus weißen Planen, die dort zu Gewächshäusern aufgerichtet wurden.
Auf meinem Weg Richtung Süden machte ich einen Umweg durch die Poniente Almeriense, da sich rund um die Regionalhauptstadt El Ejido die größte Konzentration von landwirtschaftlicher Intensivkultur der Welt befindet. Auf gut 350km2, einer Fläche größer als München, wurde das Land hier mit Plastikfolie überspannt, unter der Tomaten, Gurken, Auberginen und Zucchini kultiviert werden. Auf Satellitenbildern erkennt man gut die Vollständigkeit, mit der das ‘Mar del plástico’ die Region bedeckt. Abseits von Straßen und Städten gibt es keinen freien Quadratmeter, kein Stück Boden, das nicht von einem Gewächshaus versiegelt ist.
Bis in die 50er Jahre war El Ejido ein armes Dorf mit gerade mal 2000 Einwohnern. Die ersten Gewächshäuser, die ersten Wasserpumpen und schließlich technische Innovationen wie verbesserte Wasserkreisläufe und Tropfbewässerungssysteme führten zu einem raschen ökonomischen Aufschwung. Heute zählt El Ejido über 80.000 Einwohner und ist eine der reichsten Gemeinden Spaniens.
Der LKW-Fahrer ist einer der ca. 1000 Fahrer, die täglich die Treibhäuser von El Ejido nach Norden verlassen um Gemüse an europäische Supermarktketten vor allem in Deutschland zu liefern. Etwa 80% des hier produzierten Gemüses nehmen Edeka, REWE, Lidl und Aldi ab.
Der Preis für das Kilo Ware schwankt stark und ist von der Nachfrage der Konzerne abhängig. Ist die Nachfrage hoch, können die Produzenten gut vom Verkauf leben. Ist sie niedrig, kann der Preis für das Kilo Auberginen auf 3 Cent sinken. Den ökonomischen Druck der deutschen Ketten geben die Produzenten an ihr Personal weiter. Die zumeist aus Marokko, Algerien und Mali stammenden Arbeiter erreichen Andalusien häufig illegal und bewegen sich ohne Papiere. Den Landwirten ermöglicht dies, Arbeitskräfte ohne Vertrag anzustellen. Häufig tageweise, häufig für einen Stundenlohn von 4-5€. Angeheuert werden viele der Tageskräfte in den frühen Morgenstunden auf der Straße; einem Arbeiterstrich.

Die Ausbeutung der afrikanischen Arbeitskräfte ist bekannt und wird kaum verborgen gehalten. Zwischen den Reihen der Gewächshäuser finden sich immer wieder Bauten aus Plastikmüll, die oft behelfsmäßig an Ruinen angelehnt sind. Die ‘Chabolas’, die Hüttensiedlungen, sind aus alten Planen der Gewächshäuser gebaut und beherbergen die Ärmsten der Armen. Die Menschen arbeiten unter Plastik, sie schlafen unter Plastik.
Um die Produktion auch bei schlechter Marktlage aufrecht zu erhalten, werden die Landwirte durch die Europäischen Union subventioniert. 2009 wurde El Ejidos regierender Bürgermeister unter der Anschuldigung der Korruption, Fälschung von Dokumenten und Veruntreuung öffentlicher Gelder verhaftet.


Der LKW-Fahrer schnickt seine Zigarette auf den Boden ohne sie auszudrücken. Er macht kehrt und wirft mir im Gehen einen Blick zu, um mich wissen zu lassen, dass er sich beobachtet fühlte. Als sein Laster schließlich hinter einer Kurve verschwindet, nähere ich mich dem Schrein. 126 Flaschen Wasser zähle ich, etwa 200 Liter. Vielleicht wäre Maria Correa hiermit bis zu ihrem Mann gekommen. Ich mache ein Foto des Schreins und versuche den Golfplatz mit ins Bild zu bekommen. 1982 kämpfte der knapp bekleidete Arnold Schwarzenegger dort unten am Strand als Conan der Barbar gegen Thulsa Doom, den Anführer des Schlangenkultes.