Deutschland im Sitzen

Mit der Regionalbahn nach und schließlich durch Deutschland. Von ganz im Süden (Freiburg) nach ganz im Norden (Husum).

Deutschland im Sitzen

Fünf Tage Regionalbahn, unterwegs mit deutschen Menschen

Wo befindet sich eigentlich dieses Deutschland? Ist es ein Ort oder ein Gefühl? Atmet es durch die deutschen Menschen oder durch das Chlorophyll tausendjährigen Eichenlaubs? Ist deutsch das, was Deutsche tun? Vor allem aber: Wie bekommt man es eigentlich in seinen Mund?

Ein unglückseliger Beinbruch zwingt den Protagonisten dieser Geschichte für zwei Monate in die engen vier Wände eines Freiburger Appartments. Frische Luft und tägliche wechselnde Ausblicke gewohnt, wird die Zeit dort zäh und Zumutung. Sehnsuchtstätigkeit ‚Reisen’, aber wie? Es ist einer der größten Vorteile der Moderne, dass man seinen Standort mittlerweile nicht nur gehend, sondern auch sitzend oder gar liegend wechseln kann und somit auch ein Glied schonend den eigenen Anker von der Erdenrinde lösen und sich in Richtung Sehnsucht bewegen lassen kann.

Das „9€-Ticket“ ist nicht mehr das Gleiche, seit es nicht mehr 9€-Ticket, sondern Deutschlandticket heißt und nicht mehr 9, sondern 49€ kostet; doch günstiger als Fliegen ist es immer noch. Und das für alle. Eine Regionalbahnreise also durch die blühenden Landschaften der alten Republik, von ganz im Süden nach ganz im Norden: Freiburg (Brsg.) — Husum. Über eine Nettoreisezeit von etwa 20 Stunden informiert der „DB-Navigator“.

Beim bekrückten Schritt hinein in den ersten Zug, den RB 26 nach Offenburg, prangt es noch über der Türe: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.“ Eine Fahrt der Hoffnung zweifellos für alle, die angekommen müssen, in jedem Fall aber für den, der bereits angekommen ist: Auf dem knarzenden Sitz der Rheintalbahn des Anbieters „bwegt — Mobilität für Baden-Württemberg“. Hoch springt das Herz, tief sitzt man im unteren Zugbereich, Punkt 8:00 Uhr, es beginnt.

Noch geht der Puls schnell, als es im Lautsprecher knackt: „Meine Damen und Herren, aufgrund eines technischen Defekts bitten wir Sie alle in Ruhe aufzustehen — IN RUHE AUFZUSTEHEN — und sich hinüber zu einem Ersatzzug auf Gleis 6 zu begeben. Ich bitte Sie UM RUHE. Ich muss auch dorthin.“ Das Leben ist eine Reise, auf der man beim Umsteigen nie weiß, auf welches Gleis man muss — kommt es mir in den Sinn und ich möchte diese fröhliche Offenheit für die nächsten Tage beibehalten. Mit dem freundlichen Eisenbahner in traditioneller Lederjacke betrete ich zuletzt den Ersatzzug des RB 26 nach Offenburg, Abfahrt heute 8:08 Uhr, abweichend von Gleis 6.

Nebel liegt im Tal des Vater Rhein, der hier von den finstren Höhen des Schwarzwalds begrenzt wird. Gleich zwei Mythengestalten der Deutschen. Meine Suche scheint in die richtige Richtung zu führen. Umstieg in Offenburg. Offenburg, das ist Burda und Yellow-Press, Heimat von Wolfgang Schäuble, Jürgen Todenhöfer und Hanns Martin Schleyer. Deutschland zum Atmen.

Karlsruhe, Heidelberg, Frankfurt am Main. Ich lasse „the länd“ Baden-Württemberg hinter mir, als ich die Regionalbahn 98 nach Kassel (Wilhelmshöhe) betrete, mit der ich das Land Hessen durchmesse. Die Wälder nördlich des Mains sind Schauplatz der Geschichten, die von den Brüdern Grimm aus Hanau gesammelt wurden. Sagen der hessischen Menschen, die zu Märchen der Deutschen wurden und heute abgelöst sind von Narrativen der Postmoderne. „Hessen weiter führen“ entnehme ich der „Rheinschrift“, einer digitalen Postille des Ministerpräsidenten Boris Rhein. Auch der Reisende hat Führung nötig, beschließe ich erbaut durch die Lektüre und möchte im weiteren die Leitung meiner Wege abgeben, an den abweichenden Fahrplan und die vorgeschlagene Alternativverbindung des DB-Navigator.

In der Weltkulturerbestadt Kassel, die alle vier Jahre Hauptstadt der schönen Künste ist, suche ich Erfrischung in den reichgefüllten Kühlschränken von „Brezina Tabak“, als die Bankkarte des jungen Mannes vor mir auch nach häufigen Versuchen zu versagen scheint. Bargeld hat er keines. Ich begreife den kairos der Situation und übernehme für ihn die Kosten seiner Schachtel „Marlboro Red“. Auf religiösen Wallfahrten zählt nicht das Ziel des Reisenden, sondern das Gute, das er auf seinem Wege tut. Mir wird klar, dass diese Reise, die als Ausbruch begann, eine Pilgerreise geworden ist. Ein deutscher Pilger, auf dem Wege durch seine Heimat zu sich selbst.

Um 18:45 Uhr verlasse ich den RB 83 in Göttingen, um 19:04 betrete ich den RE 2 „Metronom“ nach Hannover Hauptbahnhof. In der Stille des leeren Waggons notiere ich jene Einsichten, als sich ein Herr mittleren Alters an meinen Tisch setzt und mir mit coffeinhaltiger Limonade versetzten Weingeist anbietet. Er stellt sich als Herr Dominico vor — natürlich! Auch wenn das Staunen über die scheinbaren Zufälle mir vertrauter wird, gibt es doch keinen Zweifel, dass der heilige Dominikus, der Schutzheilige der Wissenschaftler, höchstselbst die ehrwürdige Universitätsstadt Göttingen verlassen hat um meine Seele mit Wissen zu heilen. Aufmerksam lausche ich seinen Lehren, bis die diensthabende Begleiterin des „Metronom“ uns in Transzendenz Versunkene unterbricht und darauf hinweist, dass uns der Genuss gebrannten Geistes im Nahverkehr des Landes Niedersachsens untersagt sei. Meine Hand folgt der Weisung des Dominikus und führt die in einer Aluminiumdose gemischten Gabe an meine Lippen, die das Geschenk in einem tiefen Zuge aufnehmen. Ein Pilger, so notiere ich mir, fährt lieber nicht selber. Auch, wenn er einen Führerschein hat. Die weitere Unterweisung nimmt nicht den Umweg über mein Gedächtnis, sie schreibt sich mir direkt in mein Herz.

Die erbauliche Begegnung mit dem Heiligen lässt die Schritte leicht werden, die ich durch den „Einkaufsbahnhof Hannover“ tue. Stolz und mächtig ruht das Reiterstandbild des Landesherren Ernst-August auf dem Bahnhofsvorplatz. Es ist spät geworden in Deutschland und ich beschließe, dass die Herrschaft des Königs mein Schutz für diese Nacht sein soll. Matt von der Schwere einer formativen Erfahrung suche ich eine Gaststube, in der ich mich stärken kann. Bei „Alsham Restaurant“ finde ich orientalische Speisen für wenige Heller. Ein deutscher Leib fordert nicht nur Speise, sondern auch Getränk, das jedoch meinem Wirt ob seines Glaubens verboten ist. Doch gnädig ist das Schicksal dem, der sich fügt und mein Ohr erlauscht heiteren Gesang im Nebenhause.

Ich betrete die Klause „Steintor Quelle“, stelle Krücken und Bündel an die Seite und nehme den letzten verbleibenden Platz am Ausschank ein. Auf meine Bitte nach Erfrischung labt mich Wirtin Claudia mit einer Tulpe „Gilde Ratskeller Premium Pils“. Gierig stürze ich die Nasenspitze in den festen Schaum, doch erinnere ich mich meiner deutschen Mission und halte ein, ehe mein Geist im Safte der Niedersachsen versinkt. Körperlich nun von allem Bedürfnissen befreit, lausche ich dem Gesang der Gäste, die volkstümliches Liedgut aus den Lautsprechern begleiten. Es handelt von Liebe und Heimat, von Arbeit und Freundschaft. Von Sehnsucht nach Freiheit und den Schankstuben des Landes. Deutschland, es ist in seinen Liedern. Mein Nachbar zur Rechten, Kapuzenpullover der Mannschaft Hannover 96 und Rauchwaren der Marke „Javaanse Jongens“, stellt sich als Herr Michael vor und fragt nach dem Zwecke meiner Reise. Glücklich über den Kontakt berichte ich von Idee und Zweck meines Tuns und möchte von ihm näheres über seine Heimat wissen. Doch auf meine Frage, ob Hannover eine Stadt oder ein Lebensgefühl sei, erhalte ich keine Antwort. Pflichtig meiner Mission insistiere ich jedoch und möchte wissen, ob er die Landeshauptstadt Hannover, einstige Hauptstadt des Königreiches und Residenz Carsten Maschmeyers vielleicht in drei Worten beschreiben könne, worauf ich die orakelnde Antwort „Siehste ja selbst“ erhalte, deren Ergründung ich mir zur Meditation nehmen will. Zu meiner Linken lerne ich den Abgesandten Ralf kennen, der die Interessen und das Wohl der dienstleistenden Arbeiterschaft der Region vertritt. „Solidarität“, so lerne ich, „is over.“ Empört weiche ich zurück, soll es doch gerade im Heimatland des KdF-Wagens um das Engagement der Werkstätigen füreinander schlecht bestellt sein…! Doch halte ich an mich, da Wertung dem Gast nicht zusteht und zudem die klare Sicht verblendet. „Erkenntnis ist des Pilgers Aufgabe“ notiere ich in meinem Tagebuch und will mich künftig bemühen, meine Leidenschaften besser zu kontrollieren. Doch da Übung hartes Werk gegen des Menschen Triebe ist, lasse ich mich hinreißen und singe und tanze mit den Menschen Hannovers zu Liedern über Liebe und Heimat, über Arbeit und Freundschaft bis in die frühen Morgenstunden.

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Nur kurz schloss mir Müdigkeit die Augen, schon werde ich aufgerissen. Ein Horn, ein Posthorn vielleicht, nein, ganz sicher ein Posthorn schallt in mein Ohr und füllt mich zum Zittern aus. Cis-e-a dröhnt es voran, Cis-e-a. Blechern klingt es, leicht überblasen, das ist Rossini, ist Wilhelm Tell, ich bin der Schweiz, ja, ein Schweizer Postauto kündigt sein Entgegenkommen auf der schmalen Bergstraße an, die ich in einem Liegewagen passiere. Cis-e-a, neuerlich, die Straße, nur für einen Wagen breit, der kaum befestigte Abbruch droht unbarmherzig. Ich fahre hinauf. Und liege in den Laken Hannovers. Des Menschen Geist vermag vieles zu imaginieren, Sinn, andere Welten, der Engel Schutz und einen liebenden Gott, doch vielmehr noch mag er im Delir das Notwendige vollbringen und einen Wecker stellen, damit der Leib seinen Auftrag erfüllen und die Bahn erreichen kann.

Trotz aller Pflichterfüllung stellte der Geist den Wecker etwas knapp und nur mit dürftiger Toilette eile ich bekrückt von meiner Schlafstatt zum Einkaufsbahnhof Hannover um in den letzten Sekunden der vierten Minute nach Neun den Regionalexpress Nr. 3 in Richtung Hamburg (Hbf.) zu erreichen. „Ihr, die ihr eintretet….“ erinnere nicht ich, sondern etwas in mir sich der Tafel über dem Eintritt des gestrigen ersten Zuges. Die Wahrnehmung ist ein schwierig Ding, so nimmt sie häufig auf, ohne zu begreifen. Doch ich begriff; heute, hier, an einem deutschen Feiertag im RE 3 „Metronom“ Richtung Hamburg (Hbf.). Wieviel Leib fasst ein Wagen des Niedersächsischen Regional- und Landesverkehrs? Mehr zumindest, als es der Sitze gibet. Schweißnass läuft es mir übers Gesicht, die müden Augen stieren leer nach Raum, die Lunge atmet Luft, die nicht ist. Ein kurzer Schwindel begleitet die anflutende Verzweiflung. Rot färbt sich das Licht, die Körper der Menschen werden erst nackt und abstoßend, dann ein einziges loderndes Glutnest, raumfüllend und einen Meter Siebzig hoch. Unterarme, sind es meine?, stützen die Krücken in den Boden und suchen Halt. 2 Stunden, 24 Minuten soll das Inferno fahrplanmäßig wären und in Demut seufze ich auf, ich würde nie wieder freveln gegen das rechte Gebot.

„Bitte, bitte, setzen Sie sich doch“, klingt es von rechts, als ich die Hoffnung wirklich fast fahren ließ. Ein junger Mann bietet mir seinen Platz bereitwillig an, er lächelt. Es scheint ihm gar nichts auszumachen. Kaum eines Dankes fähig nehme ich dies Angebot an und fühle mich von ihm bei einem kurzen Blickwechsel in meiner Situation gesehen. Nun steht der junge Mann mir nahebei und schaut über mich hinweg auf die vorbeifahrende Landschaft, scheinbar mit sich und der Hitze des Wagens in Einem. Zweifelsohne, es waren die Krücken, die den Mann auf meine Situation aufmerksam machten, doch spürte er womöglich den aufreißenden Schlund, in den ich zu fallen drohte? „Ich freue mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde.” heißt es im Kolosserbrief 1,24. Noch schallt es aus der gestrigen Nacht in mir nach: „Solidarität… is over“. Doch ist des Pilgers Pfad kein resignierter, sondern die Hoffnung selbst. Als Einzelne steigen wir in den Regionalexpress, als Gemeinde fahren wir dahin. Zum Halse pocht mir noch das Herz, als ich erkenne, das die Liebe der Gemeinde anders wärmt, als das Inferno Dantes.

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12:12 Uhr, RE 70 Hamburg — Kiel bis Elmshorn, 13:01 Uhr RE 60 nach Westerland (Sylt) bis Husum. Ich erblicke Land ohne Form. Pferde grasen auf grüner Marsch, die im Raster von Abflusskanälen durchzogen ist. Parzellen von Wirtlichkeit, die das mächtigste der Elemente über- und hinfortzuspülen vermag, wäre da nicht des Menschen Fleiß, durch den allein Deutschland auch dieses hier sein kann: die torfige Ebene der nördlichen Landen. Auch wenn mein Sinn für Zufall bereits zureichend erschüttert ist, setzt mich derselbe auf den verbleibenden Platz einer Vierergruppe, nämlich einem eleganten weißhaarigen Alten gegenüber, neben diesem ein dösender dunkler Jüngling, neben mir ein Gentleman in Tweed. Habe ich mich bislang auf meiner Reise, so schien es mir zumindest, im Querschnitt der deutschen Menschen gewusst, reist in diesem Waggon des „Nahverkehrs Schleswig-Holstein“ eine mir bislang unbekannte Bohème.

Wenn Deutschland reist, wohin geht es dann? Goethe ging nach Italien, später folgte ihm die Familie Udo Struutz aus Bitterfeld. Ich besuchte einst die alte Stadt Metz in Frankreich, aber es war eine Schülerreise und ich erinnere mich nicht. Hitler hingegen sehnte sich nach überall und so will es mir auch heute noch scheinen, als suche Deutschland nach seinem Platz in der Welt. Der deutsche Reichtum zumindest, er weiß, dass er die große Düne im Nordwesten aufzusuchen hat, wenn der Tage Mühsal ihn zur Ruhe zwingt. Geld schläft ja sonst nicht, das weiß und sehe ich, bevor mir die Augen zufallen und ich in Bildern meines Inneren aufgehe.

Das Läuten eines Telefons löst mich aus meinem Schlummer. „Ja, das Algo-Trading funktioniert automatisiert…. Ja natürlich auch nachts…. Was denken Sie denn? Sie gehen schlafen, Geld jedoch nicht!“ Habe ich diesen Satz nicht gerade gedacht? War er nicht der Beginn meiner Träumereien? Ich blicke mich um und sehe den jungen Mann schräg gegenüber weiterhin mit geschlossenen Augen an die Scheibe gelehnt. Ohne eine Verabschiedung nimmt der Weiße mir gegenüber sein Telefon vom Ohr und führt es in seine Sakkotasche.

„… jedenfalls ist es doch gerade diese Wohlstandsverwahrlosung, die unsere Jugend heute auszeichnet. Sehen Sie, mein Sohn, er hatte sich nie um etwas zu sorgen. Und vor Kurzem erreicht unsere Familie der Brief des Staatsanwaltes, dass gegen ihn eine Anzeige vorläge und ihn diese verdammte Kleberei auf dem Flughafen Stuttgart vor Gericht bringe. Es kann doch nicht sein, dass ich mich und meine Familie bei meinem Schweiße in unsere Position brachte und mein Sohn den Segen dieser Freiheit derartig missbraucht.“

Der Gentleman in Tweed erwidert: „Es geht uns doch allen viel zu gut, gerade den Jungen. Ich sage Ihnen, was ich die nächsten Tage machen werde: Ich werde auf das Meer schauen. Es versteht doch heute niemand mehr, dass gerade Entbehrung wahren Reichtum bedeutet. Ich begegnete jüngst auf Mykonos einem Bettler, dessen Lächeln mir wie der Inbegriff des Glücks erschien. Freiheit beginnt doch erst dort, wo Grenzen beschränken!“

Unsicher über den Zustand meiner Sinne blicke ich aus dem Fenster. Der Regionalexpress fährt durch endlose Gemälde Emil Noldes, dem „deutschen Bauer“, der „tief im Heimatboden nach den künstlerischen Schätzen” grub. Ein schmutziges Geschäft, hier in Schlamm und Schlick zu wühlen. Grub Nolde eigentlich mit den Händen? Wieder wollen mich meine Sinne täuschen: Ich sehe ihn gleich dort vorne knien, mitten in der Marsch, die Hände tief in der Erde vergraben, die Kleider braun getränkt.

„Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Husum. Ausstieg in Fahrtrichtung links.“ Ich wische mir den letzten Schlaf aus den Augen, ohne zu wissen, ob ich wach bin. „Sie, mein Herr“, spricht mich der Weiße gegenüber an und zeigt auf mein defektes Bein, „sind der Einzige hier der entbehren muss. Sie haben meinen ungeteilten Respekt.“ Mein wirrer Blick sucht die Quelle dieser Sätze, landet jedoch für einen Moment auf den schwarzen Haaren des Schlafenden. Einer Antwort unfähig erhebe mich stumm und greife nach meinen Krücken, die mir helfen, aufrecht zu bleiben.

Ich betrete den Bahnsteig Husum am 3. Oktober um 14:11 Uhr, am Tag der Deutschen Einheit.

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Es ist ein Schimmer des Utopischen, der die Orte unserer Sehnsucht umgibt. Wer sie erreicht, muss feststellen, dass es Romantik in der Welt nicht gibt sondern bloß Romantisierungen des nüchtern Vorhandenen. Anzukommen ist der finstre Abgrund des fahrenden Menschen.

„Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn’ Unterlass;…“

heißt es in Storms Gedicht. Und auch mein Herz will nicht recht schlagen, hier, am Ziele meiner Reise, auf Gleis 4 des Bahnhofs der grauen Stadt am Meer.

Meine ohnehin verwirrten Sinne werden matt und trüb. Der Anblick der stillen Gleise lastet schwer auf mir. War es dies, was ich suchte? Sollten mich zwei Tage auf Schienen bloß in die Einsamkeit der nördlichen Begrenzung Deutschlands geführt haben? Mein Bedürfnis nach innerer Klärung führt mich treppab in den „ServiceStore“ der Deutschen Bahn und unmittelbar an die großzügigen Kühlanlagen. Ich erwerbe zwei Dosen „Paulaner Hefe-Weißbier“ bei Kassierer Tim, der mich unvermittelt anspricht. “Na, wat kiekst du denn so bedröppt? Een broken Been is doch noch lang keen Beenbruch.” Der nordische Dialekt reißt mich aus meiner Stimmung. „Ähm, entschuldigung, wie bitte?“, antworte ich. „Ein gebrochenes Bein ist doch noch lange kein Beinbruch, sagte ich! Das ist ein Wortwitz.“ Ich muss lachen, nicht nur über den Witz, sondern auch über diese plötzliche Wendung meiner Seele.
„Ach ja.. Es ist so: Ich wollte Deutschland suchen und habe Husum gefunden.“
Tim schien nicht zu verstehen, aber ich tat es ja auch nicht und ging meiner Wege in Richtung Hafen.

Eine gleißende und noch immer hochstehende Sonne sähte ihr Licht, wie sie nur in den nordischen Breiten pflegt. Ich musste meine Augen zukneifen, ob zum Schutze oder aus Melancholie, ich weiß es nicht mehr zu sagen. Bei jenem halbinwendigen Blick bemerkte ich erst meinen gähnenden Magen, der den Ausschweif der vorangegangen Nacht noch nicht überwunden hatte. In etwas Entfernung kündigte eine leuchtende Reklame anatolischen Drehhammel „in Premium Qualität“ an, ein Sud vom Joghurt mit Wasser und Salz sei inklusive. Was es wohl sein solle, fragte mich jener Koch oder Metzger, ich konnte es nicht deuten, und schob ein „Meister“ seinem Fragezeichen vor. Meister, ja, das wäre schön und ich hätte sicher auf meinen Vater (Gott hab ihn selig) hören sollen, in meiner Berufswahl, doch so gereichte es mir nur zum Master, was ich seit jeher bereute.

Durch Stärkung und Schweigen erreiche ich bald den Hafen und jenes weltumspannende Gewässer namens Meer, das sich meiner Stimmung angenommen haben und sich in lichtere Gefilde zurückgezogen haben muss, da es sich mir heute nur als Bächlein zwischen Schlammbanken vorstellt. Boote mit Masten, Boote ohne Masten, sie liegen in ganzer Schwere aufgebahrt im Morast und mein Herz wird schwer, als ich an die armen Seemänner denken muss, deren einzig Obdach auf der weiten See in Sturm geriet, (in Sturm,) der die Segel peitschte und des Menschen Hybris strafte, sich an Orte zu begeben, die nicht für ihn sind und ihn folglich zu verdammen in den kalten Sarg auf dem Grunde des Ozeans, den nimmermehr der Sonne Strahlen wärmt. Ebbe nennt man jene Stunde, die den Schlick zeigt, in den wir gehen werden.

Doch vertieft der Anblick des feuchten Braun meinen Kummer weiter: Noch als Junge lernte ich, dass meine Heimat ihrer selbst mächtig und souverän sei, dass es blühe, dieses Deutschland, von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rheine. Doch hier lerne ich: Es sind nicht wir, die deutschen Menschen, die der deutschen Erde die Kultur beibringen und sie ordnen im Katasterregister der Städte. Es ist die Kraft der Gestirne, die hier, in der Brackmarsch der Husumer Au ihre Macht demonstrieren und deren Duldung wir gesenkten Haupts erfahren dürfen. Richte dich nur auf, du eitler Pharisäer, doch bedenke Hiob 38,8-11: „Wer ist’s, der dem Meer seine Grenzen bestimmte, als es hervorbrach wie aus dem Mutterschoß? Als ich sein Toben stillte und ihm Riegel und Türen setzte und sprach: Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!“
Kein Stolz will mich mehr erfüllen. Deutschland, es ist nicht mehr als Sandburg vor der Allmacht der Gezeiten.

Müde und erschüttert bin ich von einem Tag, der sich wie ein Leben anfühlte. Es dämmert und ich suche eine Herberge für kleines Geld. Nahe des Hafens erspähen meine trägen Augen das Licht des Hotels „Graues Haus“, wo ich aufgrund einer Versammlung der „Husumer Kegler e.V.“ trotz meines kläglichen Äußeren ab- und zum Obdach „Blaues Haus“ der Familie Petersen verwiesen werde. Nach langem Gang durch schmale Gassen erreiche ich Familie Petersen bei Einbruch der Dunkelheit; ein erleuchteter Flamingo weist den Weg in den Hof. Herr Petersen empfängt mich, bittet mich durch die der zu Tisch sitzenden Familie Stube in mein Gemach nebenan, wo ich gerade noch mein Bündel ablegen kann, bevor ich ohne Nachttoilette einschlafe.

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Ich erwache mit der Leere des Geläuterten. Zwar habe ich Deutschland nun von vorne, jedoch noch nicht von hinten gesehen.

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