Ein beinahe endloses Rechteck aus Schwarz und Weiß dehnt sich um einen aus. Undifferenzierbar kleinteilig, uniform vier- bis fünfstöckig, schwarze Fenster in weißen Fassaden. Welche Ausdehnung schockiert den Verstand hier oben eigentlich mehr, die, der Stadt? Oder die ungebrochene attische Kultur, die weiterhin an jeder Faser der Moderne mitwebt und für deren Hegemonie die unerschütterlichen Säulen des Parthenon Symbol stehen?

Athen, was ist das eigentlich? Ist es Ort oder Utopie, ist es Idee oder Praxis, ist es Vergangenheit oder Gegenwart? Antworten hierauf sind leicht gegeben; jedoch wirklich zu begreifen, was diese bedeuten, ist auf dem Akropolishügel eine Übung in Fantasie, Empathie und Reflexion. Steht man winters alleine auf dem flachen Felsen und schaut über die Propylen hinweg der Sonne beim Versinken im megarischen Golf zu, wandern die Gedanken in der Zeit zurück. Dieses Bild also war es, das auch Sokrates, Platon und Aristoteles gesehen haben. Das sie mit ihren Augen, mit ihren Sinnen wahrnahmen. Das zu begreifen —und somit auch eine Verbindung zwischen sich selbst und diesen hier real gewesenen Menschen herzustellen — erschüttert mich zutiefst. Jenes Schattenspiel der Karytiden, der weiblichen Säulenfiguren des Erekteions im Abendlicht — das gleiche Bild, der gleiche Schatten, nur 2500 Jahre jüngere Augen, die es bestaunen. Am Horizont die Berge der Peloponnes in vielen Ebenen aufgereiht, ein Flecken Schnee auf dem höchsten, dazwischen vom Wasser getrennt die Schifffahrtsinfrastruktur von Piräus. Antike und Moderne — in diesem Bild wird die Zeit durchlässig.

Gleichzeitigkeit. Tagsüber Platon, abends Techno, ein Verwischen von Epochengrenzen. Ich verlaufe mich in ein Athen jenseits des Tourismus, z.B. in den hier dienstältesten Club „Kytarro“ und erlebe stampfenden Industrial-Techno zu Actionfilmen der 80er-Jahre, im Afterhour-Club „Skullbar“ tanze ich von 10-15 Uhr mit den Nimmermüden und begegne ausschließlich Neugierde und Gastfreundschaft: „My friend, you are FOR SURE the only foreigner in this club, and it’s great to have you here.“ Plötzlich nicht mehr abends, sondern tagsüber Techno, Zeitverwischung überall. Vom finsteren Kellerclub zur lichten Agora ist es nicht weit und zum wievielten Male verschwimmt 500 vor und 2000 nach unserer Zeitrechnung.

Der Gang über die Agora und ein neuerliches Hineinversetzen in die Augen eines Atheners der damaligen Zeit bringt nur neuerliche Erschütterung mit sich. Wie schockiert muss ein Mensch vor 2500 Jahren gewesen sein, als er über die Prachtbauten des Marktplatzes hinweg auf das Heiligtum des Parthenons geschaut hat? Unsere Augen sind mit diesem Bild bekannt: Wir haben es hundertfach auf Bildern, im Fernsehen, im Geschichtsbuch oder im Restaurant gesehen. Der erste Blick mag ernüchternd sein, jedoch nur, weil es für uns bereits vor jedem Besuch Sehgewohnheit ist. Doch was muss in einem Menschen geschehen, der in seinem Leben noch nie auch nur ansatzweise vergleichbares gesehen hat? Das Bild als Überwältigung für ihn, der Gedanke daran hingegen für mich.

Ein weiterer Sonnenuntergang auf dem die Akropolis weit überragenden Hügel Lykabettos und die Ansicht des omnipräsenten Meeres wirft nur weitere Fragen auf, ohne etwas zu beantworten. Für uns Mitteleuropäer ist das Meer stets in einer bestimmten Richtung: z.B. im Norden, also deutsche Küste, oder im Süden, also Italien. Für Griechen ist das Meer in jeder Richtung: Es ist dort vorne im Süden, also hinter der Stadt. Im Osten jedoch ist es auch, gleich hinter dem Flughafen. Im Westen aber genauso, nämlich hinter Korinth. Im Norden zeigt es sich etwas später, doch auch dort ist es schnell erreicht.

Mir gefällt die innere Verfassung, die aus dieser Situation folgt: In alle Richtungen sieht ergo erfährt man die eigene Handlungsbegrenzung. Dort vorne ist nicht mehr mein Verfügungsbereich. Auch dort hinten habe ich nichts mehr zu schaffen. Freiheit wird ja immer erst durch ihre Negation real, durch die Grenze, hinter der sie nicht mehr ist. Wer weiß, vielleicht haben ja auch die antiken Athener so etwas gespürt. Und entdeckten so die Idee der Freiheit.

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